Auf vom ukrainischen Sicherheitsdienst SBU zur Verfügung gestellten Videobildern sieht man, wie eine Drohne sich dem russischen Luftwaffenstützpunkt im sibirischen Belaja nähert. Die FPV-Drohne (First Person View; per Kamera ferngesteuert) fliegt über einen Bomber, von dem schon Rauch aufsteigt. Dann explodiert eine andere Drohne in einem weiter entfernt geparkten strategischen Bomber TU-95. Laut SBU handelt es sich um einen groß angelegten Angriff auf die strategische Bomberflotte Russlands.

„SBU-Drohnen greifen Flugzeuge an, die jede Nacht ukrainische Städte angreifen“, heißt es aus dem Sicherheitsdienst. „Zu diesem Zeitpunkt sind Berichten zufolge mehr als 40 Flugzeuge getroffen worden.“ Später verlautet aus SBU-Kreisen, es seien 41 Flugzeuge getroffen worden, darunter Langstreckenbomber des Typs Tupolew Tu-95, Tupolew Tu-22 M3 und A-50-Aufklärungsflugzeuge. Die gesamte strategische Bomberflotte Russlands umfasst etwa 127 Flugzeuge, von denen aber viele aus Altersgründen nicht einsatzbereit sind.

Wenn die ukrainischen Angaben auch nur annähernd zutreffen, dann ist die Operation „Spinnennetz“ der folgenschwerste Angriff, den die strategische Bomberflotte Russlands je erlitten hat, und der schwerste Schlag für Moskau, seitdem die Moskwa, das Mutterschiff der Schwarzmeerflotte, versenkt wurde. Zudem wurde eine schwere Explosion auch aus dem Marinestützpunkt Seweromorsk gemeldet, dem Sitz der russischen Nordmeerflotte.

Angriff tief im russischen Hinterland

Laut ukrainischen Angaben sollen insgesamt vier Militärbasen der strategischen Bomberflotte angegriffen worden sein, die zum Teil mehrere tausend Kilometer entfernt liegen von der ukrainischen Grenze. So wurden Belaja in Sibirien, Olenja in Murmansk, Iwanowo (gleichnamige Oblast) und Djagilewo in Rjasan angegriffen. Videobilder scheinen das zu bestätigen. Auf allen vier Basen sind dichte Rauchschwaden zu sehen, die von jeweils mehreren Objekten aufsteigen. Allein in Belaja scheinen vier bis fünf Flugzeuge getroffen worden zu sein.

Überraschend ist, dass der Angriff nicht etwa mit ukrainischen Langstreckendrohnen erfolgte, die in den vergangenen Monaten immer tiefer in russisches Territorium eingedrungen sind, etwa um Waffenfabriken und andere strategische Ziele zu attackieren. Vielmehr ist es dem ukrainischen Geheimdienst offenbar gelungen, Russland tief auf dem eigenen Territorium zu infiltrieren.

Laut Augenzeugen stiegen die Drohnen offenbar von Lastwagen auf, die in die Nähe der Luftwaffenbasen transportiert worden waren. Videobilder eines Augenzeugen zeigen zumindest einen Lkw-Container, von dem eine Drohne aufsteigt. In einem weiteren Video aus der Nähe der Luftwaffenbasis Olenja berichtet ein Anwohner, ein Lkw-Fahrer sei panisch aus seinem Fahrzeug gerannt, als die Drohnen aufstiegen. Ihm sei nur gesagt worden, er solle den Lkw an einen bestimmten Ort bringen und dann darauf warten, dass er abgeholt werde.

Die ukrainische Agentur Ukrinform veröffentlichte am Sonntagnachmittag Bilder des SBU, die zeigten, wie die Drohnen in einem verdeckten doppelten Dach von Containern versteckt worden waren. Laut Ukrinform wurde die Operation anderthalb Jahre lang vorbereitet. So seien erst die Drohnen nach Russland gebracht worden und dann die hölzernen Container.

In Russland seien die Container dann auf Lastwagen verladen und die Drohnen in einem verstecken doppelten Dach der Container verborgen worden. Als die Container dann am Einsatzort ankamen, seien die Dächer per Fernbedienung geöffnet worden, um den Drohnenschwarm freizusetzen.

Auf dem Video eines Augenzeugen war auch zu sehen, wie ein Container sich selbst zerstörte, nachdem die Drohnen ausgeflogen waren. Laut Ukraininform haben alle an der Operation beteiligten Ukrainer Russland inzwischen wieder verlassen.

Für Russlands Luftwaffe ist dieser Schlag besonders demütigend. Schließlich wurde ein guter Teil der Bomberflotte zuvor nach Olenja verlegt – weiter weg von der ukrainischen Grenze und damit in vermeintlicher Sicherheit. So zeigten Satellitenbilder vom 26. Mai, dass in Olenja 40 TU-22M3-Bomber, elf TU-95MS-Bomber und fünf Transportflugzeuge vom Typ AN-12 stationiert waren.

Wie viele davon zerstört wurden, ist bisher unklar. „Russland hat die wertvollen Flugzeuge nach Olenja verlegt, um genau dieses Szenario zu vermeiden, das wir nun auf Videos und Fotos aus der Region sehen“, meint der finnische Militärexperte Emil Kastehelmi auf X.

Laut Auswertungen von Satellitenbildern hat die russische Luftwaffe die Standorte des Hauptteils der Bomberflotte in den vergangenen Monaten immer wieder rotieren lassen, um es schwerer zu machen für die ukrainische Aufklärung, die Stützpunkte zu identifizieren, auf denen der größte Teil der Flotte sich jeweils befand.

Das war offenbar der Grund, warum die Ukraine zeitgleiche Angriffe auf vier Stützpunkte organisierte. Damit konnte sichergestellt werden, dass in jedem Fall ein erheblicher Teil der strategischen Flotte getroffen wird. Der russische, mit der Luftwaffe assoziierte Militärblogger „Fighterbomber“ nannte es einen „schwarzen Tag für die russische Langstreckenflotte“. Andere Militärblogger sprachen gar von „Russlands Pearl Harbor“.

Die ukrainische Operation dürfte erhebliche Folgen für die russische Kriegsführung haben. Denn Moskau hat keine Möglichkeit, die zerstörten Bomber schnell zu ersetzen. In der Vergangenheit haben sich Bemühungen zum Neubau von strategischen Bombern als schwierig erwiesen, weshalb sich die Russen darauf verlegten, die alten Bomber zu modernisieren und instand zu halten. Weil viele der Flugzeuge wegen ihres Alters sehr wartungsintensiv sind, ist nur ein Teil der Flotte jeweils einsetzbar.

Sollte es der Ukraine tatsächlich gelungen sein, mehrere Dutzend strategische Bomber zu zerstören, so würde das Russlands Fähigkeiten, ukrainische Städte zu bombardieren, deutlich einschränken. Gleichzeitig würde Russlands Abschreckungspotenzial gegenüber anderen Großmächten sinken, weil die strategische Flotte auch zum möglichen Transport von Nuklearwaffen vorgesehen ist.

Der ukrainische Überraschungsschlag ist wahrscheinlich die bisher effektivste Maßnahme dieses Krieges gegen die völkerrechtswidrigen Angriffe Russlands auf zivile Ziele in der Ukraine. „Den Bogenschützen zu töten ist immer besser, als den Pfeil abzuschießen“, meint Ben Hodges, ehemaliger Oberbefehlshaber der US-Armee in Europa, zur ukrainischen Operation.

Soll heißen: Es ist sehr viel effektiver, einen Bomber auszuschalten, der pro Einsatz je nach Flugzeugvariante ein halbes Dutzend oder mehr als ein Dutzend Marschflugkörper abschießen kann, als jeden einzelnen dieser Marschflugkörper mit Flugabwehrraketen abzufangen.

Die ukrainische Operation ist zudem auch sehr viel günstiger. Während Raketen zur Abwehr der russischen Marschflugkörper je nach System mehrere Millionen Euro pro Stück kosten können, wurden Russlands strategische Bomber nun mit Drohnen ausgeschaltet, deren Kosten pro Stück wahrscheinlich nur bei mehreren hundert Euro oder im niedrigen vierstelligen Bereich lagen.

Der Schaden, der Russland dadurch entstanden ist, ist jedoch enorm. Je nach Variante und Modernisierungsgrad könnte jeder zerstörte Bomber mehrere hundert Millionen Euro kosten. Entsprechend geschockt dürfte man in Moskau sein über die kreative und kostengünstige ukrainische Sabotageaktion.

Der Zeitpunkt der Operation dürfte mit Bedacht gewählt sein. In den vergangenen Tagen hatte Moskau seine tödlichen Angriffe auf ukrainische Städte erheblich eskaliert. Die Ukraine zeigt nun, einen Tag vor einem für Montag in Istanbul geplanten Treffen mit russischen Vertretern, dass sie ebenfalls in der Lage ist, weiter zu eskalieren.

In einer ersten Reaktion beließ es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei nur vagen Andeutungen zum Angriff, formulierte auf X aber noch einmal die bekannten Positionen der Ukraine zu Verhandlungen. Die Ukrainer haben mit ihrem Überraschungsangriff jedenfalls deutlich gemacht, dass Russland keineswegs alle Trümpfe in der Hand hat. Ex-General Hodges, ebenfalls auf X, in Anspielung auf Donald Trump, der im Weißen Haus zu Selenskyj sagte, er habe nicht die Karten in der Hand: „Offensichtlich hat Präsident Selenskyj noch einige Karten, die er spielen kann!“

Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik von WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.

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