Die neue Bundesregierung handle migrationspolitisch „ohne klare Linie, ziellos und ohne rechtssichere Entscheidungsgrundlagen“ und damit „jenseits von Humanität und Rechtsstaatlichkeit“, heißt es im Antrag der Grünen-Fraktion im Bundestag. Das Schriftstück mit dem Titel „Europarecht einhalten, Schutzbedürftige schützen, Zurückweisungen an den Binnengrenzen beenden“ wurde am Donnerstag im Bundestag hitzig debattiert.
Neuen Auftrieb erhielt das Thema durch eine Eilentscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes vor wenigen Tagen, das die Zurückweisung dreier asylsuchender Somalier an der deutschen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte. Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler erklärte im Interview mit WELT allerdings, dies sei keine Grundsatzentscheidung, sondern zunächst nur das erste Urteil eines Verwaltungsgerichtes und zudem nur eine vorläufige Entscheidung, keine endgültige. „Die Bedeutung ist nicht so groß, wie es im Augenblick der Öffentlichkeit scheint“, so Boehme-Neßler.
Britta Haßelmann, Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, eröffnet die Diskussion und erinnert an den 29. Januar 2025 – den Fünf-Punkte-Plan von CDU-Chef Friedrich Merz. Heute werde über die gleichen Themen erneut diskutiert. Neben scharfer Kritik an der CDU wirft sie der SPD vor, sich „wegzuducken“ und fragt: „Was ist heute anders als am 29. Januar? Ist es die Tatsache, dass Sie jetzt an der Regierung beteiligt sind?“ Besonders auch für die Bundespolizei seien die Zurückweisungen eine „Zumutung“, die beendet werden müsse.
Der auf Haßelmann folgende Redner Alexander Throm (CDU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, richtet das Wort an sie: „An Ihrer Stelle wäre ich bei dem Thema Fürsorge um unsere Polizistinnen und Polizisten heute etwas kleinlauter gewesen.“ Solange Jette Nietzard, die Vorsitzende der Grünen Jugend, Mitglied der Partei bleibe, verliere die Fraktion jede Glaubwürdigkeit dabei, die Interessen der Polizei vertreten zu wollen. Nietzard hatte zuletzt mit einem Pullover mit „ACAB“-Schriftzug Aufsehen erregt. Die Parole „All cops are Bastards“ bedeutet: Alle Polizisten sind Bastarde.
Throm betont weiter, illegale Migration müsse beendet werden – „ja, auch durch Grenzkontrollen und Zurückweisungen“. Damit werde die Magnetwirkung Deutschlands reduziert, „und darüber sind auch alle unsere Nachbarstaaten froh“. Das Problem sei eindeutig die „dysfunktionale“ Dublin-Verordnung, an die sich in Europa niemand halte – „außer Deutschland in den letzten zehn Jahren“. Nach der Dublin-Verordnung ist für einen Asylsuchenden in der Regel der EU-Ersteinreisestaat zuständig.
Christian Wirth, Mitglied der AfD im Innenausschuss, bewertet die Situation noch deutlich drastischer: „Ähnlich wie bei der Klimapolitik ist der Handel mit Menschen ein riesiges Geschäft geworden. Milliarden um Milliarden werden dem Steuerzahler entwendet und fließen in die Asyl- und Einwanderungsindustrie.“ Der „Kolonialismus des 21. Jahrhunderts“ handele mit „vermeintlichen“ Arbeitskräften. Linke und Grüne vereinigten sich mit Islamisten und pflegten gemeinsam einen „Migrationsfetisch“, in dem sie Migranten als „Ersatzproletariat“ nutzten.
Wirth sagt, er wolle nicht bestreiten, dass Deutschland sich aktuell in einer Notlage befinde – „aber es wäre an Merkel gewesen, diese Notlage 2015 auszurufen“. Stattdessen habe die damalige Bundeskanzlerin von der CDU „die Büchse der Pandora“ geöffnet. Um dem entgegenzuwirken, seien Gesetzesänderungen nötig. „Das Votum der Wähler hierzu bei der Bundestagswahl war jedenfalls eindeutig.“
Angelika Glöckner, Mitglied der SPD-Fraktion im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, vertritt eine andere Auffassung: Ihrer Erfahrung nach habe die Mehrheit der Bevölkerung nichts gegen Migration, sondern wolle nur, dass Behörden und Integration ordentlich funktionierten. „Was Menschen wirklich fürchten, ist eines: dass wir als Regierende die Kontrolle verlieren und dann die Rechtsextremisten zulegen“.
Wer Europa wolle, müsse europäisch handeln: „Wir brauchen Kontrolle, aber im Rahmen des Rechts“, so Glöckner. Hiermit spielte sie auf die Kritik diverser Juristen an, wonach die Zurückweisungen an den deutschen Grenzen als Verstoß gegen europäisches Recht gewertet werden könnten.
„Das kennen wir bereits von Viktor Orbán“
Harte Kritik kommt auch aus dem entgegengesetzten Lager: Clara Bünger, Sprecherin der Linksfraktion für Fluchtpolitik, beginnt ihren Redebeitrag mit folgenden Worten: „Herr Dobrindt, keine vier Wochen im Amt und schon den ersten Gerichtsbeschluss, der ihre Politik für rechtswidrig erklärt – das muss man erst einmal schaffen.“ Sie bemängelt: „Wenn Sie ein Minister mit Format wären, hätten Sie sich nach diesem Beschluss entschuldigt.“
Dass Dobrindt die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes als „Einzelfallbeschluss“ bezeichnet hatte, kommentiert Bünger wie folgt: „Sie wollen die Öffentlichkeit hier ganz klar an der Nase herumführen. Entweder kennen Sie das Gesetz nicht, Herr Dobrindt, oder es ist Ihnen egal, und beides disqualifiziert Sie für dieses Amt.“ Die Regierung stelle sich mit ihrer Migrationspolitik über den Rechtsstaat – und das sei gefährlich. „Das ist der Anfang vom Ende einer liberalen Demokratie“, sagt Bünger, „das kennen wir bereits von Viktor Orbán aus Ungarn.“
„Hören Sie auf, die Schwächsten zu Sündenböcken für Probleme zu machen, die Sie selbst zu verantworten haben“, fordert Bünger vom Innenminister. Sie fragt weiter, ob Dobrindt wisse, warum es das Asylrecht überhaupt gibt, um die Frage selbst zu beantworten: „Weil Menschen im Faschismus abgewiesen, deportiert und ermordet wurden. Nie wieder sollte ein Mensch, der Schutz sucht, an Deutschlands Grenzen abgewiesen werden. Sie brechen dieses historische Versprechen. Wer Menschen abweist, hat aus der Geschichte nichts gelernt.“
Dann tritt der CDU-Innenpolitiker Florian Oest ans Rednerpult: Er habe sich immer schon für das Zusammenwachsen seiner sächsischen Heimatstadt Görlitz eingesetzt – „Sie können mir also glauben, dass ich harte Maßnahmen wie die Kontrollen an den Grenzen nicht auf die leichte Schulter nehme“, so Oest.
Aber: In Landkreisen wie seinem spürten die Menschen die Konsequenzen illegaler Migration als Erste. „Wer von Berlin aus fordert, die Grenzkontrollen einzustellen, verkennt die Realität an unseren Grenzen.“ Die Kontrollen seien kein Angriff auf Europa, sondern dessen Schutz.
Dem schließt sich auch der letzte Redner, der CSU-Innenpolitiker Thomas Silberhorn an. Er führt am Ende noch einen neuen Punkt in der Diskussion um die Grenzkontrollen an: die Zuwanderung über Russland und Belarus als „Gefährdung unserer inneren Sicherheit“. Auch die drei Somalier seien so eingereist. „Wir wissen seit Jahren, dass Russland versucht, Migranten aus aller Welt über Belarus in die Europäische Union einzuschleusen“, so Silberhorn.
Ziel sei es, unsere Gesellschaft zu spalten und unsere demokratische Ordnung zu destabilisieren. Irreguläre Migration sei für Russland „ein Instrument hybrider Kriegsführung“ – beispielsweise durch „Wegwerf-Agenten, die mit finanziellen Versprechungen zu Sabotageakten oder Anschlägen missbraucht werden“.
Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.
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