Der Druck auf die türkische Opposition nimmt zu. Fünf gewählte Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und sind seit Donnerstag suspendiert, drei aus Bezirken in Istanbul, zwei im Süden des Landes. Es ist die fünfte Verhaftungswelle, seit im März Ekrem Imamoglu, Istanbuls Oberbürgermeister und ärgster Rivale des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, aus seinem Wohnhaus abgeführt wurde. Er sitzt seitdem in einem Hochsicherheitsgefängnis.
Mit den jüngsten Vorgängen sind mittlerweile elf CHP-Bürgermeister aus ihren Ämtern entfernt worden, über hundert Stadtbedienstete und Vertreter des Oppositionslagers wurden festgenommen, immer wieder führen Ermittler Razzien durch. Die Erdogan-Regierung und die türkische Justiz werfen Imamoglu und seinem Umfeld Korruption und Terrordelikte vor.
Oppositionsleute und unabhängige Beobachter sehen es anders: Demnach versucht Erdogan, seinen aussichtsreichen Herausforderer politisch kaltzustellen, mehr noch, die oppositionelle Handlungsmacht systematisch auszuhöhlen. Inzwischen greift der Konflikt auf die Parteispitze der CHP selbst über – ein juristisches Verfahren könnte in wenigen Wochen die gesamte Führung infrage stellen. Die entscheidende Frage lautet, ob es der Opposition gelingt, diesen Bedingungen mittelfristig zu trotzen.
Proteste der Opposition
Abends auf dem Platz der Republik in Gaziosmanpasa, wenige Meter vom Rathaus des Istanbuler Stadtteils entfernt. Die CHP hat zum Protest gerufen wie jeden Mittwoch seit dem 19. März, dem Tag – einem Mittwoch –, als Imamoglu verhaftet wurde. Hunderte Menschen sind gekommen. Einige tragen Plakate, auf einem steht: „Neuwahlen jetzt“, auf einem anderen: „Es gibt keine Rettung für einen allein – entweder alle oder keiner.“ Aus Lautsprechern dröhnt Musik, es treten mehrere Figuren aus der Opposition auf.
Auch Tuncay demonstriert mit seiner Frau und seiner Tochter. Er hat bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr Hakan Bahcetepe seine Stimme gegeben, einem der fünf oppositionellen Bezirksbürgermeister, die in diesen Tagen ihres Amtes enthoben wurden. Tuncay findet das ungerecht, ebenso wie Imamoglus Verhaftung. „Beide wurden meiner Meinung nach unrechtmäßig angeklagt und inhaftiert. Wir sind hier, um ihre Freiheit zu fordern“, sagt er.
Tuncay arbeitet als Abteilungsleiter im Verwaltungsbereich eines internationalen Unternehmens. Seine Tochter Acelya, 18, studiert Betriebswirtschaft und lernt Deutsch für ein Auslandssemester. Ihre berufliche Zukunft sieht sie außerhalb der Türkei, sie will nach Deutschland oder Österreich.
Tuncay findet das bedauernswert, aber angesichts der wirtschaftlichen und politischen Lage in der Türkei kann er es ihr nicht verdenken. „Ich hoffe, dass wir in Zukunft frei sein werden und dass es wirtschaftlich wieder aufwärts geht“, sagt Acelya und klingt dabei nicht überzeugt.
Vom Dach eines Busses spricht nun der CHP-Parteivorsitzende Özgür Özel zur Menge. Er attackiert den Istanbuler Generalstaatsanwalt, der die Ermittlungen und Verhaftungen seiner Parteigenossen zu verantworten hat. „Treib es nicht zu weit“, warnt er ihn, und: „Du hast dir den Falschen ausgesucht.“ Özels Rede wird ihm am Tag darauf zwei weitere Strafverfahren einbringen, wegen „Bedrohung zur Verhinderung richterlicher Tätigkeit“ und „öffentlicher Beleidigung eines Amtsträgers“.
Seit März sind in der Türkei so viele Menschen auf die Straße gegangen wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Die CHP bezifferte die Zahl der Demonstrierenden Ende März auf 2,2 Millionen, lokale Medien sprachen von Hunderttausenden. Die Kundgebung in Gaziosmanpasa ist zwar deutlich kleiner als die Großproteste vor einigen Wochen, aber dennoch gut besucht – wenn auch der Protest seither an Dynamik verloren hat. Vielleicht ist es genau das, worauf die Regierung setzt: dass der Widerstand mit der Zeit verebbt.
Politische Lager haben sich gefestigt
Tatsächlich wünschen sich viele Menschen ein Ende der politischen Spannungen. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts Metropoll befürworten rund 70 Prozent ein Gespräch zwischen Präsident Erdogan und Oppositionsführer Özgür Özel zu diesem Zweck. Offenbar sind sie die Polarisierung leid.
Doch die Demonstrationen scheinen die beiden Lager eher gefestigt als aufgebrochen zu haben. „Anders als viele denken, hat Erdogan nicht wesentlich an Macht verloren“, sagt Metropoll-Chef Özer Sencar. Regierungsnahe Unentschlossene seien seit Beginn der Protestwelle zur AKP zurückgekehrt, oppositionsnahe Unentschlossene zur CHP.
Demonstrant Tuncay ist dennoch überzeugt, dass die Proteste ihre Wirkung entfaltet haben: „Nach der Festnahme von Ekrem Imamoglu wollte die Regierung jemanden von der AKP an die Spitze von Istanbul setzen“, sagt er. „Wenn wir nicht protestiert hätten, hätten sie das vielleicht tatsächlich durchgezogen.“
Der derzeitige Oberbürgermeister der Stadt ist ein CHP-Mann und kein von der Zentralregierung eingesetzter Zwangsverwalter, wie es etwa im türkischen Südosten der Fall war, wenn Bürgermeister kurdischer Parteien abgesetzt wurden. Ein solches Szenario will Tuncay nun auch für seinen eigenen Stadtteil verhindern, der Ausgang ist offen.
Tuncay glaubt, dass wenn vorgezogene Präsidentschaftswahlen abgehalten würden und Imamoglu antreten dürfte, er gegen Erdogan gewänne. Dass die Wahl vor zwei Jahren gegen Erdogan verloren ging, schreibt er dem damaligen Oppositionskandidaten und Ex-CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu zu. Er sei der Falsche gewesen, um gegen Erdogan anzutreten, findet Tuncay.
Nach seiner Wahlniederlage hat Kilicdaroglu den Parteivorsitz in einer Kampfabstimmung verloren. Dennoch könnte er unerwartet ins Rampenlicht zurückkehren – und auch dieses Szenario hat mit der türkischen Justiz zu tun. Denn es laufen Ermittlungen wegen angeblicher Korruption beim CHP-Parteitag im November 2023, auf dem Özgür Özel zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde.
Erdogan könnte von Prozess profitieren
Am 30. Juni findet der entscheidende Gerichtstermin statt. Sollte der Parteitag für ungültig erklärt werden, wäre auch Özels Wahl nichtig. Kilicdaroglu würde formal wieder zum Vorsitzenden – es sei denn, er lehnt das Amt ab. Parteiintern tobt bereits ein Machtkampf; die CHP steht vor einer schweren Krise.
Als Nutznießer könnten Erdogan und seine AKP hervorgehen. Einige Beobachter vermuten darin ein strategisches Vorgehen zur Schwächung der Opposition. Der Politikwissenschaftler Berk Esen schrieb auf der Plattform X: „Dieser Prozess gibt der Regierung ein extrem mächtiges, gebrauchsfertiges politisches Instrument in die Hand.“ Die Regierung versuche, die CHP-Führung nach ihren Vorstellungen umzugestalten.
Eine ähnliche Lesart bringt die bekannte Journalistin und politische Beobachterin Nevsin Mengü an. „Die einzige ‚Schuld‘ der CHP in dieser Zeit ist, dass sie über ihre traditionelle 25-Prozent-Wählerschaft hinausgewachsen ist und zu einer Partei geworden ist, die aktive Opposition betreibt“, kommentiert sie die Vorfälle. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr holte die Partei ihr bestes Ergebnis seit den 70er-Jahren und überholte Erdogans AKP.
Mit anderen Worten: Die größte Oppositionspartei ist Erdogan gefährlich geworden – und dafür scheint sie jetzt einen Preis zahlen zu müssen. Wie hoch er ausfällt, ist noch nicht zu ermessen.
Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.
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