Jerusalem vor 2000 Jahren: ein unscheinbarer Raum, ein unvergesslicher Moment. Draußen ist es trocken und heiß, die Luft flirrt, drinnen ist es angenehm. Auf den kühlen Steinen des Fußbodens haben sich die Anwesenden niedergelassen. Es ist ein Tag wie jeder andere, und doch wird er die Welt verändern: Im Abendmahlsaal von Jerusalem, einem schlichten Raum auf dem Berg Zion, haben sich die Jünger Jesu versammelt. Sie sind verunsichert, ihre Zukunft nach Tod und Auferstehung ihres Meisters ungewiss.

Es ist Schawuot, das jüdische Fest der Wochen – doch für die kleine Gemeinschaft wird dieser Tag zum Wendepunkt. Plötzlich erfüllt ein Brausen den Raum, als wehe ein mächtiger Wind durch die alten Mauern. Züngelnde Flammen erscheinen über den Köpfen der Versammelten – ein Feuer, das nicht verbrennt, sondern verwandelt.

Was hier geschieht, ist das Pfingstwunder: die Ausgießung des Heiligen Geistes, die Geburtsstunde der Kirche. Die verängstigte Gruppe wird erfüllt von Mut und Begeisterung. Sprachbarrieren lösen sich auf, Menschen aus verschiedenen Kulturen verstehen einander. Aus der kleinen Bewegung wird eine weltumspannende Gemeinschaft, die bis heute lebt.

Der Abendmahlsaal, auch Obergemach genannt, ist bis heute ein zentraler Ort des Christentums. Einst in der Kreuzfahrerzeit überbaut von der mächtigen Hagia Sion, heute in unmittelbarer Nachbarschaft zur deutschsprachigen Dormitio-Abtei gelegen. Hier, so die Überlieferung, feierte Jesus das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern.

Der Raum selbst spiegelt die bewegte Geschichte Jerusalems wider. Gotische Bögen und Kreuzfahrer-Relikte zeugen von wechselnden Herrschaften und Glaubensrichtungen. Über Jahrhunderte wurde der Saal von verschiedenen Religionen beansprucht, umgestaltet, verehrt. Heute ist er ein Pilgerziel für Christen aus aller Welt – und ein Symbol für das Miteinander der Religionen in der Heiligen Stadt.

Doch der Abendmahlsaal ist mehr als ein historischer Ort. Er steht für den Neuanfang, für die Kraft des Geistes, die Menschen über Grenzen hinweg verbindet. Was hier einst geschah, hallt bis heute nach: als Pfingsten, als Fest des Aufbruchs, der Erneuerung, des Geistes, der die Welt verwandelt.

Und heute predigt Pierbattista Kardinal Pizzaballa, der Lateinische Patriarch von Jerusalem, direkt nebenan in der Dormitio-Abtei. Noch vor wenigen Wochen wurde Pizzaballa zu den Favoriten auf die Führung der Weltkirche gezählt.

In seiner Pfingstpredigt, die WELT vorab vorlag, greift Kardinal Pizzaballa die Bedeutung dieses Wunders auf. Er erinnert daran, wie der Heilige Geist in der Geschichte immer wieder in schwierigen Zeiten eingegriffen hat – als dynamische, lebensspendende Kraft, die Rettung, Befreiung und Hoffnung bringt. Gott, so Pizzaballa, wirkt oft gerade durch Schwache und Verunsicherte – durch Propheten, durch einfache Menschen, durch die Jünger im Abendmahlsaal.

Besonders betont der Kardinal: Der Geist Gottes eröffnet neue Wege, wo vorher keine zu sehen waren. Er wirkt gerade dann, wenn Stillstand, Erschöpfung oder sogar Tod das Leben zu bestimmen scheinen. „Wo der Geist eintritt, wächst das Bewusstsein für die lebendige Gegenwart Gottes“, sagt Pizzaballa. Der Geist ist kein einmaliges Ereignis, sondern eine ständige, tägliche Realität – eine Kraft, die das Leben immer wieder verwandelt.

Im Johannesevangelium kündigt Jesus das Kommen des Heiligen Geistes an. Er bereitet seine Jünger auf eine neue Gemeinschaft vor: Sie werden mit ihm verbunden bleiben, nicht mehr physisch, sondern im Geist. Dieses Geschenk, so der Kardinal, bedarf der Erwartung und des Feierns – sonst bleibt es wirkungslos. Jesus weckt Hoffnung und Erwartung in den Herzen seiner Jünger, die sich auf einen schmerzhaften Abschied vorbereiten müssen.

Die Merkmale des Geistes sind „immer“ und „alles“. Er wird immer bei den Gläubigen sein und sie an alles erinnern, was Jesus gelehrt hat. Der Geist kommt, um in den Menschen zu wohnen, macht sie selbst zur Wohnstätte Gottes. So wird die Gegenwart Gottes zur täglichen Erfahrung, zur Quelle von Kraft und Zuversicht.

Pfingsten, das Fest des Aufbruchs

Der Neuanfang, den der Geist ermöglicht, ist eng mit der Liebe verbunden, wie Pizzaballa betont. Wer Gott liebt, wird von ihm geliebt – und der Geist ist Ausdruck dieser Liebe. Leben im Geist bedeutet, immer wieder neu mit der Liebe zu beginnen, selbst in schwierigsten Zeiten. Der Geist schenkt Glauben und Hoffnung auf einen Neuanfang, unabhängig von den Umständen.

Was vor 2000 Jahren im Abendmahlsaal begann, ist bis heute lebendig: Pfingsten ist das Fest des Aufbruchs, der Erneuerung, der Hoffnung. Es erinnert daran, dass der Geist immer bei uns ist – und es immer möglich ist, neu zu beginnen. Der Geist überwindet Grenzen, verbindet Menschen, schenkt Mut und Zuversicht.

Kardinal Pizzaballa schließt seine Predigt mit einer Botschaft, die aktueller nicht sein könnte: „Weil der Geist immer bei uns ist, ist es immer möglich, neu zu beginnen – frei von Sünde und Tod.“ Der Geist ist die Kraft, die das Leben verwandelt und die Menschen zu einer lebendigen Beziehung mit Gott führt.

Der deutsche Abt der Dormitio-Abtei, Nikodemus Schnabel, fasst zusammen: „Pfingsten ist mehr als ein historisches Ereignis. Es ist eine Einladung, sich immer wieder vom Geist Gottes erneuern zu lassen, neue Wege zu gehen und Gemeinschaft zu leben – über alle Grenzen hinweg. Der Abendmahlsaal in Jerusalem bleibt ein Symbol für diesen Aufbruch, für die Kraft des Geistes, der die Welt verbindet und verwandelt. Das Pfingstwunder ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart – und Zukunft.“

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.