If you see something, say something“, tönt es alle zwei Minuten aus dem Lautsprecher des Linienbusses. Und sofort danach auf Spanisch: „Si ves algo, diga algo.“ Diese Sätze scheinen banal, doch sie sagen viel über Los Angeles aus, die Millionenmetropole an der amerikanischen Westküste, die dieser Tage in aller Welt wegen der teilweise gewaltsamen Proteste gegen die Einwanderungspolitik der US-Regierung in den Schlagzeilen ist.

Die Sätze sind eine Aufforderung an die Fahrgäste, kriminelles Verhalten nicht zu tolerieren. Denn Sicherheit sei die oberste Priorität, so wird die Durchsage ergänzt. Doch allein die Tatsache, dass dies ständig wiederholt werden muss, zeigt, dass es hier offenbar ein Problem gibt.

Tatsächlich ist der öffentliche Nahverkehr in Los Angeles zwar ganz gut ausgebaut, doch genutzt wird er nur von einem winzigen Bruchteil der vier Millionen Einwohner – von jenen, die sich kein Auto leisten können, von Obdachlosen, von Drogenabhängigen, von der untersten Unterschicht. Angenehm ist die Fahrt daher oft nicht, und es gilt geradezu als Stigma, wenn man Busse oder U-Bahnen nutzen muss.

Denn das will eigentlich keiner. Selbst wer kein Auto hat, fährt deshalb lieber mit Uber oder gleich mit einem Waymo – ein fahrerloses Taxi. Diese Geisterautos schwirren Tag und Nacht durch die großen Straßen und Trassen der Stadt, erstaunlich geschmeidig. Oft treffen sie dann auf einen Lieferroboter, der gerade eine Straße überqueren will – ebenso selbstfahrend, ohne menschliche Lenkung. Los Angeles ist die Stadt des Fortschritts.

Vor allem aber ist Los Angeles die Stadt der Autos. Die überwältigende Mehrheit der Angelenos, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, hat natürlich eines. Hunderttausende Blechkarrossen schieben sich daher tagtäglich über die Straßen und Autobahnen, die die Metropole kreuz und quer durchschneiden, oft auf Hochtrassen übereinandergestapelt. „Bleiben Sie auf einem der sechs linken Fahrstreifen“, lautet dann mitunter eine ebenso normale wie für Europäer absurde Vorgabe des Navigationssystems, mitten in der Stadt. Doch trotz der sieben, acht, neun Spuren auf jeder Fahrbahnseite steht der Verkehr die meiste Zeit des Tages still oder quält sich langsam voran.

Aber auch jenseits der Freeways ist Los Angeles für das Auto optimiert. Die Straßen sind breit, überall gibt es Parkplätze, selbst kleine Cafés haben einen direkt vor der Eingangstür. Denn man parkt nicht irgendwo, schlendert umher, kehrt ein, und läuft dann wieder zurück. Man fährt vor, holt den Kaffee und fährt weiter.

Echte Einkaufsstraßen gibt es daher in der Stadt nicht. Es gibt Ansammlungen von Geschäften um riesige Parkplätze herum, in der ganzen Metropole verteilt. Aber Shopping- und Flaniermeilen sucht man vergebens. Erst recht in der Innenstadt, in Downtown.

Denn der Kern der Stadt hat zwar eine durchaus präsentable Substanz, mit schönen, großen Häusern aus den 40er und 50er Jahren, so wie man sie aus Filmen kennt. Das Geschäftsleben dort ist jedoch größtenteils erstorben. Hie und da gibt es noch einige Billigläden, mitunter auch nette Restaurants. Doch spätestens, wenn es dunkel wird, wird es einsam. Und gefährlich. Die meisten Angelenos kommen daher das ganze Jahr nicht nach Downtown und sprechen stets mit einem leichten Grusel davon.

Das Stadt-Konzept von Los Angeles ist daher für Europäer oft schwer zu verstehen. Während in Europa das Leben im Kern stattfindet und sich darum herum die Wohnviertel anschließen, hat Los Angeles keinen lebendigen Kern. Es handelt sich um eine riesige, schier endlose Ansammlung von Gebäuden und Straßen, die sich jeweils zu einzelnen Distrikten gruppieren, die aber ebenfalls keine echten Kerne haben. Los Angeles ist eine endlose, kernlose Stadt.

Wer es sich leisten kann, sucht sich in dieser Endlosigkeit ein Domizil in den besseren Wohngegenden, in Hollywood, West Hollywood oder gleich Beverly Hills. Je besser das Viertel, desto imposanter werden die Häuser. In Beverly Hills fährt man kilometerweit an wahren Schlössern vorbei. Unter der Woche sind hier nur mexikanische Gärtner zu sehen, die den Rasen auf den Millimeter genau kürzen, die Hecken zu Kunstwerken stutzen und eine wahre florale Pracht vor den Villen hüten. Es sieht aus wie aus einem Disney-Film, eine scheinbar gemalte Schönheit, die aber echt ist. Und das ganze nicht über zwei, drei Straßen, sondern auf Dutzenden von Quadratkilometern.

Etwas profaner, aber immer noch herausgeputzt und sauber geht es in den angrenzenden Vierteln zu, doch je weiter der Weg Richtung Downtown führt, desto schlichter wird es. Bis der Besucher dann irgendwann am McArthur Park oder gleich in Skid Row landet – und an endlosen Lagern von Obdachlosen vorbeifährt, in denen Drogenabhängige vor sich hin vegetieren, von den Substanzen zu wahren Zombies gemacht. Eine halbe Stunde Autofahrt vom Paradies in die Hölle.

Doch die anfangs zitiert Durchsage aus dem Bus hat noch eine andere Dimension. Denn es ist kein Zufall, dass diese auch auf Spanisch erfolgte. Diese Sprache ist in der Stadt allgegenwärtig, fast schon gleichauf mit Englisch. Fast 40 Prozent der Einwohner sprechen zu Hause Spanisch, in einigen südlichen Vierteln sind es auch bis zu 90 Prozent. Sie sind Einwanderer aus Mexiko oder einem anderen südamerikanischen Staat, oder deren Nachkommen. García, López, Martínez oder andere spanische Namen dominieren alle Listen, in Schulen, Vereinen, Behörden.

Aber auch viele Distrikte der Stadt tragen spanische Namen: Los Feliz, Santa Monica, Rancho Dominguez. Und natürlich die Metropole selbst: Los Angeles. Denn gegründet worden war sie ursprünglich von den Spaniern als El Pueblo de Nuestra Señora la Reina de los Ángeles. Teile des ursprünglichen Dörfchens sind noch heute in einer Straße in Downtown zu besichtigen.

Erst 1848 wurde die Siedlung Teil des US-amerikanischen Kaliforniens. Und erst danach begann ihr Aufstieg, zunächst sehr langsam – noch im Jahr 1900 hatte die Stadt gerade mal 100.000 Einwohner. 1950 aber waren es schon zwei Millionen, heute sind es rund vier Millionen in der Stadt selbst, rund zehn Millionen im Los Angeles County, der auch die umliegenden selbstständigen Gemeinden umfasst.

Es ist also kein Zufall, dass die Proteste gegen die Abschiebung von lateinamerikanischen Migranten in dieser Stadt besonders heftig ausfallen, vor dem Hintergrund der Geschichte und der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung. Dies Latino-Communities sind oft eng verwoben, man kennt sich, unterstützt sich, kümmert sich. Die gemeinsame Sprache sowie die gemeinsame katholische Religion schmieden die Menschen zusammen – auch in ihrem Protest.

Allerdings, und auch das gehört zur Wahrheit dieser Tage, entlädt sich dieser Protest eben nicht in der ganzen Stadt. Es sind einige wenige Straßen in Downtown und angrenzenden Vierteln, wo sich einige Dutzend Personen Straßenschlachten mit den Einsatzkräften liefern. Daneben demonstrieren noch einige Hundert friedlich. Im Rest der Stadt, geht alles seinen gewohnten Gang. Die mexikanischen Gärtner schnippeln an den Hecken in Beverly Hills, der Softwareentwickler holt sich seinen Kaffee mit dem Auto, zwischen den Straßen kreuzen Lieferroboter und auf den Autobahnen staut sich der Verkehr. Und im Bus ertönt die Durchsage. Alles wie immer.

Frank Stocker ist normalerweise Wirtschafts- und Finanzkorrespondent in Frankfurt. Er berichtet über Geldanlage, Finanzmärkte und Zinspolitik. Zudem hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Seit März arbeitet er in Los Angeles und aktualisiert dort die WELT Internetseite während der deutschen Nachtstunden.

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