Wie fühlt sich eine Mutter, wenn sie jahrelang ihre Kinder nicht sehen kann? Asien al-Hassan überlegt nicht lange. „Ich kann nachts kaum schlafen, ich esse oft schlecht, und ich muss immer wieder weinen“, sagt die 33 Jahre alte Frau aus Syrien im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Dann zeigt sie eine Nachricht, die ihre achtjährige Tochter ihr am 21. März aus Syrien geschickt hat, dem Tag, an dem in dem Land der Muttertag gefeiert wird. „Ich liebe dich, Mama, von ganzem Herzen!“, heißt es darin. „Ich vermisse dich und wir alle warten auf den Tag, an dem wir uns endlich wiedersehen können.“
Die Geschichte der Familie von Asien al-Hassan, die eigentlich anders heißt, ist kompliziert, wie so viele Geschichten von Familien, deren Angehörige ihr Land infolge des 2011 ausgebrochenen syrischen Bürgerkriegs und der Gräueltaten des langjährigen Diktators Baschar al-Assad und der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verließen.
Ihr Sohn Nidal sei schon 2019 mit zehn Jahren mit seinem Onkel und mehreren Tanten ausgereist, sagt Asien al-Hassan. Er habe unter einer Atemwegserkrankung gelitten und in Syrien keine medizinische Hilfe bekommen können. Deswegen hätten sie und ihr Mann den Jungen seinen Verwandten anvertraut. In Deutschland habe er zwar kein Asyl erhalten, aber sogenannten subsidiären Schutz. Seitdem lebe Nidal in Berlin.
Sie selbst sei vor rund zwei Jahren im Wege der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen, sagt Asien al-Hassan. „Ich wollte mich um meinen Sohn kümmern“, sagt sie. Der Preis für das Wiedersehen war hoch. Denn ihre vier anderen Kinder, sie sind mittlerweile zwischen sechs und zehn Jahre alt, blieben in Syrien. Dort kümmert sich der Vater um sie, Asien al-Hassans Ehemann. „Die Kinder weinen oft“, sagt Asien al-Hassan. „Und mein Mann ruft an, weil es ihn überfordert, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen.“
Ihr Plan sei es gewesen, die vier Kinder ebenfalls nach Berlin zu holen. Grundsätzlich wäre das möglich gewesen. Denn auch Asien al-Hassan wurde in Deutschland zwar nicht als Asylberechtigte anerkannt. Wie die meisten Syrer erhielt aber auch sie sogenannten subsidiären Schutz – und wie Asylbewerber dürfen auch diese Personen nach geltender Rechtslage Familienangehörige nach Deutschland nachholen, wobei deren Anzahl im Rahmen einer Kontingentlösung auf insgesamt bis zu 1000 Visa pro Monat begrenzt wurde.
Im Fall der Kinder von Asien al-Hassan zog sich das Verfahren in die Länge. Ihr Ehemann habe sich in Syrien um Kinder und Arbeit kümmern müssen und daher einen Termin bei der für das Verfahren zuständigen deutschen Botschaft in Beirut verpasst. Der Antrag auf Familiennachzug sei bis heute nicht abschließend bearbeitet.
Nun könnte es zu spät sein. Denn Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat eine „Migrationswende“ ausgerufen. Neben den Zurückweisungen von Asylbewerbern an den Grenzen will der CSU-Politiker, den Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus für zwei Jahre aussetzen. Das Kabinett hat den Plan vor gut zwei Wochen abgesegnet. Die Abstimmung im Bundestag steht für den 27. Juni auf der Tagesordnung. Die Zustimmung gilt angesichts der Koalitionsmehrheit als nahezu sicher.
Für die Familie von Asien al-Hassan würde das bedeuten, dass ihr Ehemann, sowie die zwei Söhne und die zwei Töchter nicht nach Deutschland kommen dürften. Die Familie bliebe getrennt.
Die Nichtregierungsorganisation „Pro Asyl“ spricht von einer „Katastrophe für die Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind“. Der Schutz der Familie sei im Grundgesetz, im europäischen Grundrecht und im Völkerrecht festgeschrieben. Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte laufe dem zuwider. Familiennachzug sei „keine Gnade, sondern ein Menschenrecht“.
Das Bundesinnenministerium verweist dagegen darauf, dass der Familiennachzug die ohnehin schon bestehenden Herausforderungen bei Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden noch verstärken würde. Innenminister Dobrindt sagte, er wolle „Pull-Faktoren“ senken.
Bezüglich des Familiennachzugs gebe es zwar tatsächlich strenge rechtliche Vorgaben, heißt es aus dem Ministerium. Bei subsidiär Schutzberechtigten habe der Gesetzgeber aber einen „weiteren Spielraum“ als bei Asylberechtigten und Kontingentflüchtlingen. Regelungen für Härtefälle blieben erhalten.
Asien al-Hassan sagt, sie sei dankbar dafür, dass ihr Sohn Nidal und sie selbst in Deutschland Zuflucht gefunden hätten. Sie wolle Deutsch lernen, hier arbeiten und „für dieses Land einen sinnvollen Beitrag leisten“. Aber sie möchte auch, dass ihre Familie wieder zusammenkomme.
Ginge das auch in Syrien? Asien al-Hassan hält inne. Dann sagt sie, dass Nidal in Berlin heimisch geworden sei. Er spreche kaum Arabisch. In Syrien kenne er sich nicht aus. „Deutschland ist doch eines der reichsten Länder der Welt“, sagt Asien al-Hassan. „Wenn dieses Land meine Kinder nicht aufnehmen kann, macht mich das sehr traurig.“
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