Die Schlachtfelder im Osten der Ukraine sehen oft so aus, als habe die Superheldenfigur Spiderman ihre Netze ausgeworfen. Wie Spinnenfäden ziehen sich hauchdünne, weiße Schnüre schier endlos durch die Landschaft, egal ob über Wiesen oder in Bäumen. Es sind die Spuren einer Präzisionswaffe, die an der Front vor allem auf ukrainischer Seite zuletzt für viel Zerstörung und für viele Tote gesorgt hat: Glasfaserdrohnen.
Dabei handelt es sich um eine neue Art von Kamikazedrohne – an einer Schnur. Glasfaserdrohnen sehen aus wie gewöhnliche First-Person-View (FPV) Fluggeräte, die bereits im vergangenen Jahr massenhaft an der Front eingesetzt wurden – sie tragen eine kleine Bombe und werden von einem Piloten gesteuert.
Der Unterschied: Glasfaserdrohnen sind nicht über Antennen per Funk verbunden, sondern über ein 0,2 Millimeter dünnes Glasfaserkabel. Dadurch sind sie nicht mehr auf Funksignale angewiesen, die blockiert werden können. Das heißt: Sie sind resistent gegen bisherige elektronische Störmaßnahmen. Solange das Glasfaserkabel nicht reißt, lassen sie sich meist nur noch händisch abschießen.
Damit hat sich Russland erstmals einen klaren operativen Vorteil verschafft. Schon im Herbst 2024 haben russische Eliteeinheiten Glasfaserdrohnen getestet. Inzwischen werden sie in größerem Umfang eingesetzt – und bedrohen mit Reichweiten von mehr als 20 Kilometern Städte nahe der Front. Beim russischen Vormarsch in der Region Kursk im Winter spielten diese kabelgebundenen Drohnen eine entscheidende Rolle – dies bestätigen Soldaten beider Seiten.
Sie halfen dabei, ukrainische Nachschubwege zu zerstören und gezielt gegen Kiews Truppen vorzugehen. Auch bei der aktuellen russischen Offensive im Osten und Norden der Ukraine sind Glasfaserdrohnen gefürchtet. „Wir haben dagegen im Ernstfall keinen Schutz außer unserer Schusswaffe“, sagte der ukrainische Soldat Alex „Kosache“ an der Front in der Nähe von Torezk. Er ist Truppführer innerhalb der Lubart-Brigade.
Im technologischen Wettlauf gaben in den ersten Kriegsjahren meist die Ukrainer die Richtung vor – und Russland zog dann nach. Ukrainische Einheiten waren es, die FPV-Drohnen massenhaft an die Front brachten und damit die Kriegsführung grundlegend veränderten. Sowohl die Ukraine als auch Russland produzieren mittlerweile zwischen zwei bis drei Millionen FPV-Drohnen pro Jahr.
Kiew gelang mit diesen Kamikazedrohnen zuletzt auch der spektakuläre Schlag gegen strategische Bomber tief in Russland. Dabei soll künstliche Intelligenz die Zielauswahl der Drohnen bestimmt haben. „Beide Seiten suchen nach einer asymmetrischen Überlegenheit“, sagt Markus Reisner, Leiter des Instituts für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie. „Mit der Entwicklung von glasfaserdrahtgesteuerten Drohnen zeigt sich, dass in diesem Krieg die Flexibilität in der Waffenentwicklung von entscheidender Bedeutung ist.“
Es gibt auch ukrainische Elite-Einheiten wie „Achilles“, die bereits Glasfaserdrohnen einsetzen. Noch aber hängt die Mehrheit der Brigaden der Entwicklung zurück. Der ukrainische Digitalminister Mychajlo Fedorow hat diese Lücke erkannt und zur Massenproduktion der Fluggeräte aufgerufen.
„Ich glaube, dass diese Kategorie von Glasfaserdrohnen mindestens bis zum Ende dieses Jahres eine entscheidende Rolle auf dem Schlachtfeld spielen wird“, sagte Fedorow Ende März. Rund zehn Unternehmen seines Landes seien bereits in die Entwicklung eingestiegen.
Reichweite von 30 Kilometern
Einer der größten ukrainischen Produzenten von Glasfaserdrohnen ist 3DTech. An einem Nachmittag im Mai empfängt uns Gründer Oleksii Zhulinskyi. Vor der Wand steht ein Bild, das ihn lächelnd in Militäruniform zeigt. Der 28-Jährige kämpfte selbst an der Front im Donbass, bis er schwer verletzt wurde. Im vergangenen Sommer habe er mit 3D-Druck und der Entwicklung von herkömmlichen FPV-Drohnen begonnen, sagt Zhulinskyi.
Dann greift er im Regal nach dem Fluggerät mit dem raketenförmigen Unterbau – die Hülle für die Glasfaserrolle. „Wir haben derzeit fünf Typen von Glasfaserdrohnen mit Reichweiten von 10 bis 20 Kilometern, die bereits beim Verteidigungsministerium kodifiziert sind. Weitere Modelle mit 25 und 30 Kilometern sind in Entwicklung“, erklärt der Firmengründer.
Die Bomben, die seine Drohnen mitführten, beinhalteten je nach Modell zwischen 1,5 und 2,8 Kilogramm Sprengladung. Genug also, um damit Angriffe auf einen russischen Unterschlupf oder militärische Fahrzeuge durchzuführen.
In anderen Räumen der Firma schrauben Dutzende junge Männer – viele von ihnen unter dem Mobilisierungsalter von 25 Jahren – an Drohnenteilen. Mit Spezialmaschinen drehen sie die Glasfaserspulen auf. In Handarbeit befestigen sie Kabel an einer Plastikbox. „Unser Ziel ist, dass zehn von zehn Drohnen am Ende ihr Ziel erreichen“, sagt Chefentwickler Ilja „Ronin“.
Die Schulung der Piloten ist enorm wichtig
Zhulinskyi bestätigt, dass die ukrainische Armee noch einen Rückstand habe. „Unser Land beginnt erst jetzt, diese Glasfaserdrohnen in großem Stil einzusetzen, und nur wenige Piloten haben Erfahrung.“ Seine Firma unterstütze Brigaden bei der Schulung, denn diese Fähigkeiten machten den Unterschied.
„Wenn wir von Piloten ohne Erfahrung sprechen, dann liegt die Effizienz beim Einsatz solcher Drohnen vielleicht bei 10 Prozent. Wenn wir von erfahrenen Operatoren sprechen, kann die Effizienz bei 50 bis 80 Prozent liegen.“
In den Regalen stapeln sich Dutzende Glasfaserrollen. Sie hätten dieses Material aus China bestellt, berichtet Zhulinskyi, weil das Land der Weltmarktführer sei. Der Firmengründer schätzt, dass etwa 80 Prozent der Bauteile für seine Glasfaserdrohnen aus China kommen. Eine Abhängigkeit, für die es seiner Meinung nach keine Alternative gäbe. Rund 2000 Glasfaserdrohnen pro Monat produziere 3DTech jetzt bereits – das Ziel seien 10.000 pro Monat. Kosten pro Modell: etwa 500 Euro.
Trotz seiner Geschäftsinteressen warnt Zhulinskyi davor, die Rolle der Glasfaserdrohnen für den Kriegsverlauf zu überhöhen. Im Hier und Jetzt der Front seien sie wichtig. Aber: „Ich denke nicht, dass die Glasfaserdrohnen ein Gamechanger sind“, sagt der Firmenchef. Auch herkömmliche FPV-Drohnen würden weiterhin gebraucht, um eine Chance zu haben, diesen Krieg zu gewinnen.
Sollte es der ukrainischen Armee gelingen, Glasfaserdrohnen in größerem Umfang einzusetzen, könnte das ein zentrales Problem entschärfen. Herkömmliche FPV-Drohnen stürzen wegen russischer Störmaßnahmen zunehmend ab – in manchen Frontabschnitten sind die Erfolgsquoten drastisch gesunken.
„Russland hat seine Fähigkeiten zur elektronischen Kriegsführung weitreichend ausgebaut, um die Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte zu stören, Navigationssysteme zu blockieren und den Einsatz präzisionsgelenkter Waffen zu beeinträchtigen“, erklärt Oberst Reisner. Gegen Glasfaserdrohnen fehlt bislang ein ähnlich wirksames Mittel. Zwar versuchen Einheiten, die Kabel frühzeitig zu durchtrennen, und die Ukraine testet bereits Abfangdrohnen – doch ein schlagkräftiges Gegenmittel gibt es bisher nicht.
Ibrahim Naber ist seit 2022 Chefreporter der WELT und berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie über die US-Wahlen 2024.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.