Mehr als 100 Veranstaltungen bundesweit: Deutschland hat am Sonntag erstmals den nationalen Veteranentag gefeiert. Das zentrale Fest fand am Berliner Reichstagsgebäude statt. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) schrieb auf der Plattform X, die Bundeswehr sei fester Bestandteil der Gesellschaft. Die Frauen und Männer, die in ihr dienten oder gedient haben, verdienten Dank, Anerkennung und Respekt.
Der Veteranentag fällt in eine Phase, in der die Bundeswehr um Personal ringt. Sowohl Merz als auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) haben zuletzt Offenheit für eine Wehrpflicht gezeigt. Den Bedarf angesichts der Bedrohung durch Russland und des Szenarios eines Nato-Einsatzes umriss der Wehrbeauftragte des Bundestags, Henning Otte (CDU), in WELT AM SONNTAG so: „Bislang war es das Ziel, die Zahl von rund 182.000 Soldatinnen und Soldaten auf rund 203.000 zu steigern. Das wurde klar verfehlt. Nun ist das Ziel noch weiter in die Ferne gerückt – der Verteidigungsminister hat jetzt einen zusätzlichen Bedarf von 60.000 Soldatinnen und Soldaten ausgerufen. Das ist eine enorme Herausforderung, die Boris Pistorius jetzt bewältigen muss.“
Otte forderte deshalb einen baldigen Gesetzentwurf für einen neuen Wehrdienst mit Pflichtanteil: „Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dieses Gesetz mit seinen verpflichtenden Teilen so zu formulieren, dass es verfassungsfest ist und noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann.“ Zwar sehe der Koalitionsvertrag von Union und SPD vor, es zunächst weiter mit einem freiwilligen Wehrdienst zu versuchen. „Sollte das nicht ausreichen, muss um verpflichtende Elemente erweitert werden.“ Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) nahm den Veteranentag zum Anlass, um sowohl eine allgemeine Dienstpflicht in militärischen oder zivilen Bereichen als auch eine Reaktivierung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht ins Spiel zu bringen. „Um als Bündnispartner ernst genommen zu werden, brauchen wir eine andere Truppenstärke. Entweder gelingt das auf freiwilliger Basis, oder wir müssen wieder über eine Wehrpflicht nachdenken“, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Kommt im Bundestag neue Bewegung in die Wehr- und Dienstpflicht-Debatte?
Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Thomas Erndl (CSU), sagt WELT: „Der neue Wehrdienst muss spätestens Anfang 2026 starten, deshalb muss der Verteidigungsminister dem Parlament zügig einen Gesetzentwurf vorlegen. Wenn wir im Jahr 2029 voll verteidigungsfähig sein wollen mit 260.000 aktiven Soldaten und 200.000 Reservisten – Zielmarken, die Minister Pistorius regelmäßig nennt –, muss die Anzahl der Dienstleistenden schnell das erforderliche Maß erreichen. Deshalb muss der Mechanismus, der greift, wenn sich nicht genügend freiwillig melden, bereits jetzt im Gesetz angelegt werden.“ Erndl betont, es bleibe „einfach keine Zeit“ für „längliche Debatten“. Mit Blick auf ein allgemeines Dienstjahr gibt Erndl zu bedenken: „Der Aufbau und auch die Frage, gleichermaßen Frauen und Männer zum Dienst heranzuziehen, erfordern eine Grundgesetz-Änderung, für die es in dieser Wahlperiode nicht die erforderliche Mehrheit im Parlament gibt. Für mich stehen deshalb kurzfristig sicherheitspolitische Fragen wie die Gewinnung von ausreichend Reservisten mit dem neuen Wehrdienst im Vordergrund.“
Der Koalitionspartner SPD hingegen verweist auf „klare Vereinbarungen“, die man einhalten werde. „Wir müssen endlich unsere maroden Kasernen sanieren und neu errichten“, nennt der verteidigungspolitische Sprecher Falko Droßmann als Priorität. „Ich kann doch nicht Hunderttausende junge Männer einziehen, wenn ich weder Unterkünfte noch Waffen habe. Deshalb wird das Kabinett noch vor der Sommerpause ein Bundeswehr-Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz vorlegen.“
Auch bezüglich einer allgemeinen Dienstpflicht äußert sich Droßmann zurückhaltend: „Erst mal gilt es, die Freiwilligen-Angebote auszubauen, sie attraktiver und bekannter zu machen. Dann würden sich sicher noch mehr junge Menschen für ein gesellschaftliches Engagement entscheiden. Sollte das nicht ausreichen, kann eine Dienstpflicht aus meiner Sicht ein attraktives Modell sein – wenn es Frauen und Männer gleichermaßen erreicht.“
AfD für Reaktivierung – Linke lehnt Pflichtdienste ab
Für den Sprecher der AfD für Verteidigungspolitik, Rüdiger Lucassen, ist Ottes Vorstoß der „Versuch, den konträren Positionen in der Koalition auf irgendeine Weise gerecht zu werden. Er ist weder schnell umzusetzen und aus meiner Sicht auch verfassungsrechtlich nicht realisierbar.“ Lucassen plädiert für eine Reaktivierung der alten Wehrpflicht, für die man kein neues Gesetz brauche. „Das bestehende Wehrpflicht-Gesetz kann innerhalb kürzester Zeit geändert werden, und schon am selben Tag haben wir in Deutschland wieder die Wehrpflicht und den Wehrersatzdienst. Eine Auswahl des benötigten Bedarfs an Rekruten kann die Bundeswehr dann über die sogenannten Tauglichkeitsgrade regulieren.“ Lucassen macht CDU und CSU ein Angebot: „Sollte die SPD bei ihrer Weigerung bleiben, der Bundeswehr ausreichend Personal zuzuführen, bietet die AfD-Fraktion der Union eine Kooperation zur Reaktivierung der Wehrpflicht an.“
Otte lehnte eine Reaktivierung zuvor mit der Begründung ab, dass der Anspruch, der Bundeswehr einen „ganzen Jahrgang junger Männer zuzuführen“, diese „am Auftrag vorbei zu stark belasten“ würde. „Die Truppe muss schrittweise gestärkt werden – sie braucht einen aufwachsenden Personalkörper, der sich an der Auftragslage orientiert.“
Eine allgemeine Dienstpflicht ist für AfD-Politiker Lucassen, selbst Oberst a. D., keine Option: „Der Dienst in der Bundeswehr ist bisher der einzige zulässige Grund, Bürger unseres Landes zu verpflichten. Der Einsatz als Soldat ist hoheitlich, fordernd und elitär. Für die personelle Notlage in den sogenannten Blaulicht-Organisationen sind die rechtlichen Hürden vermutlich zu hoch.“ Ein entsprechendes Gesetz würde „bis zu einer höchstrichterlichen Klärung zu viel Unsicherheit bringen und die Wehrpflicht weiterhin verhindern. Die CDU will die Wehrpflicht, dann sollte sie auch den Mut haben, den sicheren Weg dahin zu gehen.“
Auf harten Widerstand stoßen eine Wehr- wie auch eine Dienstpflicht bei der Linke-Fraktion. „Wir lehnen die schleichende Wiedereinführung der Wehrpflicht konsequent ab“, sagt Desiree Becker, Sprecherin für Friedens- und Abrüstungspolitik, WELT. „Dass gerade einmal einen Monat nach der Veröffentlichung des Koalitionsvertrags Merz, Pistorius und auch Otte ihr Wort brechen, ist verantwortungslos. Sie alle versicherten den Kindern und Jugendlichen Deutschlands, dass der Wehrdienst unter dieser Regierung für sie freiwillig bleiben würde.“ Statt einer Wehrpflicht brauche Deutschland „eine grundlegende Reform der Bundeswehr. Es gibt sehr gute Gründe für junge Menschen, nicht zur Bundeswehr gehen zu wollen. Der Dienst an der Waffe ist immer mit Gewalt verbunden, und unsere Jugend dazu zu verpflichten, ist keinesfalls die Lösung.“
Auf Klöckners Vorstoß zu einer Dienstpflicht reagiert Becker scharf: „Frau Klöckner ist anscheinend nicht über die Menschenrechtskonvention aufgeklärt, Pflicht- und Zwangsdienste sind zuerst einmal verboten. Ausnahmen sind in der Konvention unter Artikel 4 festgeschrieben; so kann eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die anstelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Diensts tritt, durch Verweigerung abgeleistet werden.“ Zivildienste für „Kriegsdienst-Verweigerer“ sind laut Becker „Zwangsdienste“. Ihr Fazit: „Die Einführung sozialer oder anderweitiger Pflichtjahre sind reine Luftschlösser der Bundestagspräsidentin.“
Die Linke-Politikerin hebt hingegen die Bedeutung des Freiwilligen Sozialen Jahres und des Freiwilligen Ökologischen Jahres als „berufsorientierende Funktionen“ hervor. Ihre Partei unterstütze es, „wenn junge Menschen ein freiwilliges Jahr absolvieren möchten“ – aber nur gegen faire Entlohnung und bei Einführung einschlägiger Tarifverträge sowie Mitbestimmungsrechte.
Die Grünen-Fraktion schickte auf eine WELT-Anfrage keine Antwort.
Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur im Ressort Politik Deutschland.
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