• Aufarbeitungskommission des Bundes schätzt mehr als eine Million Opfer von Gewalt und Missbrauch in Heimen.
  • Betroffene seien nicht ausreichend über Entschädigungsmöglichkeiten informiert worden.
  • Opfer von körperlicher und sexualisierter Gewalt leiden ein Leben lang.

Bei der Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch in Heimen gibt es nach Ansicht der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs großen Nachholbedarf. Viel zu wenige von ihnen hätten bislang eine staatliche oder finanzielle Anerkennung ihres Leids erfahren, sagte Kommissionsmitglied Heiner Keupp in Berlin. Hier gebe es ein "großes Defizit".

Schätzungen zufolge hätten allein in Westdeutschland bis zu 800.000 Kinder in Einrichtungen der Heimerziehung Gewalt erfahren, bis zu 500.000 könnten es in der ehemaligen DDR gewesen sein, betonte Keupp. Die Kommission geht davon aus, dass mindestens ein Drittel von ihnen neben psychischer Gewalt auch sexualisierte Gewalt erfahren hat.

Das gesamte Heimsystem in beiden deutschen Staaten hatte nach Angaben der Kommissionsvorsitzenden Julia Gebrande Strukturen geschaffen, die sexuelle Gewalt und zugleich eine Schweigepraxis ermöglicht hat.

Mangelnde Information Betroffener über Entschädigungen

Angesichts dieser Dimension sei es absolut unzureichend, dass bislang nur etwa 40.000 von ihnen Hilfe aus staatlichen Entschädigungsfonds in Anspruch genommen hätten, sagte Keupp.

Von 2012 bis 2018 existierten zwei Fonds, um die Folgen repressiver Heimerziehung für ehemalige Heimkinder abzumildern. Allerdings seien die Betroffenen kaum über die Existenz dieser Fonds informiert worden, kritisierte Keupp. Es habe keine Öffentlichkeitsarbeit gegeben – wohl auch aus der Sorge heraus, die Mittel könnten nicht ausreichen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums wurden mit beiden Fonds insgesamt Hilfen im Wert von 485 Millionen Euro geleistet.

2017 wurde die Stiftung "Anerkennung und Hilfe" errichtet, an die sich ehemalige Heimkinder bis Ende 2022 wenden konnten, um eine Entschädigungspauschale in Höhe von 9.000 Euro und gegebenenfalls Rentenersatzzahlungen von bis zu 5.000 Euro zu beantragen.

Aufarbeitung retraumatisierte Betroffene

In den vergangenen zehn Jahren haben sich 149 Betroffene an die unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gewandt. Die Betroffenen berichteten, wie sie in Heimen, Jugendwerkhöfen oder anderen Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe sexualisierte Gewalt erfahren haben. Auch bei der öffentlichen Befragung schilderten einige ihre Geschichte. Demnach wurden viele Betroffene im Rahmen der Aufarbeitung sowie durch schleppende und nicht erfolgte Zahlungen aus den Fonds retraumatisiert. Auch seien Heimkinder in der DDR zunächst nicht in den Blick genommen worden.

Kommissionsmitglied Keupp erklärte, Betroffene bräuchten weiterhin Hilfe. Die Fonds müssten fortgesetzt werden. "Wir wollen die Schweigemauern überwinden", so Keupp. Die Auswirkungen der Misshandlungen begleiteten Betroffene ein Leben lang. Kirchen, Staat und Zivilgesellschaft müssten das Unrecht umfassend anerkennen.

dpa/KNA(lik)

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