Ute Vogt, 60, ist seit Oktober 2021 Vorsitzende der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Zuvor saß sie viele Jahre für die SPD im Bundestag.

WELT: Frau Vogt, kürzlich gab es an einem einzigen Wochenende deutschlandweit 15 Badetote. Ihr Verein sprach vom tödlichsten Wochenende der vergangenen zehn Jahre. Hat Sie die Zahl schockiert?

Ute Vogt: So eine hohe Zahl schockiert auf jeden Fall. Bei heißem Wetter kommt es immer wieder zu Todesfällen. Aber dass es so massiv viele Verunglückte an einem Wochenende waren, war schon außergewöhnlich.

WELT: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum das so gebündelt an einem einzigen Wochenende passiert ist?

Vogt: Es hat viel mit dem Wetter zu tun. An einem heißen Tag gehen besonders viele Menschen ans Wasser. Insofern ist es vor allem eine Frage der Statistik. Extreme Hitze kann dann natürlich auch gesundheitliche Probleme hervorrufen.

WELT: Die Zahl der Badetoten ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen: 2024 ertranken 411 Menschen – 31 mehr als im Jahr zuvor. Was ist der Grund für diese Entwicklung?

Vogt: In Jahren, in denen der Sommer besonders heiß ist, nehmen auch die Fälle an Unfällen zu. Und dann spielt es vor allem eine Rolle, dass immer weniger Menschen sichere Schwimmer sind. Unter den Verunglückten sind sehr viele ältere Menschen, die überhitzt ins Wasser gehen und dann Kreislaufprobleme bekommen. Wenn es heiß ist, sollte man sich vorsichtig abkühlen, bevor man ins Wasser geht. Das heißt, man sollte langsam reingehen und Hände, Arme und Beine vorsichtig mit dem Wasser in Berührung bringen.

Neben älteren Menschen sind die zweite Risikogruppe vor allem Männer, die die Gefährlichkeit des Wassers unterschätzen. Sie sind sich oftmals nicht bewusst, dass die Strömung in einem Fluss sehr stark sein kann, oder unterschätzen die Gefahren eines Sees.

WELT: Warum ist es vor allem ein Männerproblem?

Vogt: Männer neigen häufiger dazu, die eigenen Kräfte zu überschätzen. Gerade bei jungen Männern sehen wir das immer wieder. Sei es, weil sie zu einer kleinen Insel schwimmen oder einen Fluss durchqueren wollen. Die Gefahren werden falsch eingeschätzt.

Und wir haben auch die Fälle von Gruppen, bei denen mehrere junge Menschen ins Wasser gehen. Da sind dann immer wieder welche dabei, die überhaupt nicht schwimmen können, sich aber denken, dass das schon irgendwie gutgehen wird. Aus Leichtsinn wollen sie sich den anderen beweisen und gehen dann schlichtweg unter.

Und es gibt Familien, in denen das Schwimmen nicht zur normalen Freizeitbeschäftigung gehört. Das sind oft zugewanderte Familien, in denen das Schwimmen nicht in der Kultur verankert ist. Auch merken wir, dass je bildungsferner Familien sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht schwimmen können. Es gibt Umfragen, die einen klaren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schwimmfähigkeit aufzeigen.

WELT: Ist es auch ein finanzielles Problem?

Vogt: Das denke ich nicht. Am Ende braucht es nur Badehose oder Badeanzug, und die Schwimmkurse sind erschwinglich. Am Geld scheitert es nicht. Wir müssen vor allem daran arbeiten, dass Schulen wieder verstärkt Anlaufpunkt werden, um das Schwimmen zu lehren. Nur Schulen erreichen alle Kinder.

WELT: Woran scheitert das aktuell?

Vogt: In den Lehrplänen der Bundesländer ist Schwimmen fest verankert. In der Praxis ist das aber nicht umzusetzen, weil es in Deutschland keine flächendeckende Abdeckung durch Schwimmbäder gibt. Genau das brauchen wir aber. Nicht jede Schule muss ein Schwimmbad haben, aber von jeder Schule aus sollte in erreichbarer Nähe ein Hallenbad zur Verfügung stehen. In Deutschland gibt es viele kommunale Gewerbegebiete, wieso bauen wir keine kommunalen Schwimmzentren, zu der jede Grundschule Zugang hat?

WELT: Hat die Politik das Problem Ihrer Meinung nach erkannt?

Vogt: Erkannt ist das Problem schon. Der Bund hat jetzt beispielsweise ein neues Infrastrukturprogramm auch für Sportstätten auf den Weg gebracht. Das Problem ist, dass so viele Ebenen betroffen sind, die sich nicht zusammensetzen. Bund, Länder und Kommunen müssen zusammenarbeiten. Der Bund gibt zwar Geld, die Länder schreiben Schwimmen in die Lehrpläne, aber die Kommunen und Gemeinden stehen am Ende mit dem Unterhalt von Bädern allein da. Das sollte aber eine Gemeinschaftsaufgabe sein.

Deshalb müsste es eine flächendeckende Schwimmbadplanung geben, bei der man sich anschaut, wo in Deutschland leere Flecken herrschen. Gerade im ländlichen Raum ist das ein großes Problem. Im Sommer ist es durch die Freibäder etwas besser als im Winter. Die nächsten Hallenbäder liegen teils mehr als eine Stunde entfernt. Das führt zu gesellschaftlichen Problemen. Rund 60 Prozent der Kinder am Ende der Grundschule können heutzutage nicht sicher schwimmen. Normalerweise sollte es so sein, dass jedes Kind zu diesem Zeitpunkt schwimmen kann.

WELT: Schwimmen lernen viele in Bädern, Unfälle geschehen dann meist in Freigewässern. Gibt es ein Muster, wo die meisten Badeunfälle geschehen?

Vogt: Interessanterweise geschieht die große Mehrzahl der Badeunfälle an Seen und Flüssen und nicht an der Küste. Da sind wir wieder beim Thema falscher Selbsteinschätzung. Oft fehlt der Respekt vor dem Wasser. Menschen steigen auf ein Stand-up-Paddle und tragen keine Rettungsweste, obwohl sie nicht schwimmen können. Oder Erwachsene fahren im Kanu mit Kindern, die keine Rettungsweste tragen. Gerade solche Fälle wären vermeidbar.

WELT: Wie kann präventiv vorgegangen werden?

Vogt: Die beste Prävention ist, sicher schwimmen zu lernen. Dazu braucht es die Bäder. Dort fällt das Üben einfacher als direkt in Freigewässern. Und es braucht Respekt vor den Gewässern. Erst kürzlich sind zwei Männer in Berlin gestorben, weil sie in einem See eine Abbruchkante übersehen haben. Sie waren bis zu den Knien im Wasser, hatten Spaß, haben sich nass gespritzt und sind dann einen Schritt zu weit ins Wasser gegangen. Sie konnten nicht schwimmen und sind gestorben. Es braucht die entsprechende Vorsicht. Man sollte auch an möglichst bewachten Badestellen ins Wasser gehen und immer mindestens zu zweit sein, damit im Zweifel Hilfe geholt werden kann. Das Wichtigste ist aber, sicher schwimmen zu können.

WELT: Können andere Schwimmer an bestimmten Merkmalen erkennen, wenn sich eine Person in Not befindet?

Vogt: Ertrinken ist ein sehr schneller Tod, wir sprechen auch von einem leisen Tod. Dass jemand wild winkt und mit den Armen wedelt, – wie man es aus Filmen kennt – ist eher selten. Dementsprechend erkennt man Ertrinkende leider schwierig. Es gibt keine klassischen Bewegungen, meist ist es eher ein leichtes Weggleiten. Andere Schwimmer müssen also generell aufmerksam sein, ohne auf bestimmte Merkmale zu achten.

WELT: Am Wochenende wurde der Fall von Gelnhausen bekannt, bei dem mehrere minderjährige Mädchen im Freibad sexuell belästigt wurden. Erleben wir ein zunehmendes Sicherheits- und Respektproblem?

Vogt: Wir erleben mittlerweile überall, dass der Respekt der Menschen untereinander nachlässt und die Dreistigkeit zunimmt. Das ist kein schwimmbadspezifisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Wir sehen das an der Küste häufig, dass beispielsweise Warnflaggen ignoriert werden. Oder dass Menschen sich sehr fordernd verhalten und wollen, dass DLRG-Schwimmer auf ihre Kinder aufpassen, während sie selbst ins Wasser gehen. Rettungsschwimmer müssen den Strand bewachen und sind nicht dazu da, Kinder zu bespaßen. Menschen reagieren teilweise auch vermehrt beleidigt, wenn man ihnen Hinweise gibt, wie zum Beispiel, dass ihr Kind gefährlich nah am Wasser sitzt. Der fehlende Respekt betrifft viele Bereiche.

WELT: Sehen Sie Hinweise auf ein gesellschaftliches Entgleiten, dass vor allem Migranten Grenzen nicht einhalten?

Vogt: Es ist eine Frage des Umgangs mit anderen Menschen. Vor allem ist es eine Frage der Erziehung und der Wertschätzung, insbesondere gegenüber Frauen. Da läuft etwas im Menschenbild falsch. Natürlich hat das auch etwas mit der kulturellen Prägung zu tun, aber insgesamt ist es ein nationalitätsübergreifendes Problem.

WELT: Sehen Sie Ansatzpunkte, was kurzfristig dagegen getan werden kann?

Vogt: Wichtig ist es, den Mund aufzumachen. Es nicht zu dulden und in keinem Fall wegzuschauen. Wer sich nicht benimmt, der muss gemeldet werden und aus dem Bad fliegen.

Nicolas Walter berichtet über innenpolitische Themen.

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