„Ob das 30 Prozent oder 40 Prozent dann am Ende sind“ – mit diesen Zahlen warf Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) eine brisante Idee in den Raum: eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund in deutschen Schulklassen. In der WELT-TV-Sendung „Politikergrillen“ sprach sie von einem „denkbaren Modell“ – und entfachte damit eine Debatte.
Am Freitag konkretisierte ein Sprecher des Bildungsministeriums auf WELT-Anfrage, wer genau in diesem Zusammenhang als Migrant gelte. „Der statistische Migrationshintergrund bedeutet im bildungspolitischen Zusammenhang bei Kindern, dass entweder sie selbst oder ihre Eltern im Ausland geboren sind. Hier geht es insbesondere um die sprachliche Integration, also um Deutschkenntnisse bei Schuleintritt.“
Im Regierungsviertel trifft der Vorschlag Priens jedoch auf wenig Zustimmung. Die Sozialdemokraten im Bundestag, Koalitionspartner von Priens CDU, lehnen solch ein Modell ab. Jasmina Holstert, Sprecherin für Bildung in der SPD-Fraktion, sagt WELT: „Die Einführung von Migrationsquoten, Obergrenzen oder ähnliche Modelle finde ich grundlegend falsch. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder ganz unabhängig von ihrem Hintergrund Unterstützung in Schulen bekommen.“ Gute Bildung und Integration gelängen durch gezielte Förderung, nicht durch Ausgrenzung. „Dafür müssen wir die Kitas und Schulen stärken und nicht Kinder nach unsinnigen Kriterien aufteilen wollen.“
Kritik kommt auch aus der AfD. Martin Reichardt, bildungspolitischer Sprecher, sagte WELT: „Priens Gedankengänge über Migrantenquoten an Schulen und die ethnische ,Durchmischung‘ von Stadtteilen, etwa durch den Umzug von Familien aus Neukölln nach Zehlendorf, zeigen, wie offen sie staatlichen Zwangsmaßnahmen gegenübersteht, die an Praktiken sozialistischer Staaten erinnern lassen.“ Dennoch betont Reichardt, dass ein zu hoher Ausländeranteil in Schulklassen zu Problemen führe. „Schon vor über 20 Jahren stellte das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung fest, dass es bereits bei einem Ausländeranteil von mehr als 20 Prozent in einer Schulklasse zu einer sprunghaften Verringerung des Lern- und Leistungsniveaus kommen könne.“ Entsprechend wären die von Prien genannten Quoten von 30 bis 40 Prozent „erkennbar ungeeignet“.
Auch die Linkspartei weist den Vorschlag der Bildungsministerin zurück. Deren bildungspolitische Sprecherin Nicole Gohlke teilt mit: „Es stellt sich die Frage, wie sich das Frau Prien praktisch vorstellt.“ Die größten Probleme bestünden in Ballungsgebieten, in denen 70 bis 90 Prozent der Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund stammten.
„Das Problem lässt sich nur lösen, wenn wir alle Kinder und auch Familien ausreichend fördern. Die Forderung nach einer pauschalen Obergrenze löst da gar nichts und übertüncht nur das politische Versagen. Die Integration von Schülerinnen und Schülern bedarf gezielter Maßnahmen und die Bereitstellung von Ressourcen.“ Prien müsse diese personellen und finanziellen Ressourcen auf den Weg bringen. „Mit populistischen Plattitüden kommen wir nicht weiter“, sagt Gohlke.
Rückendeckung für Karin Prien aus dem Bundestag kommt lediglich aus ihren eigenen Reihen. Das Bildungssystem stehe unter Druck, erklärt Anja Weisgerber (CSU), stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion mit Zuständigkeit für Bildung. „Die hohe Zuwanderung der letzten Jahre hat viele Schulen überlastet. In etlichen Klassen fehlt inzwischen die sprachliche Basis für erfolgreichen Unterricht – individuelle Förderung wird so unmöglich. Eine frühzeitige, verbindliche und konsequente Sprachförderung, wie sie auch im Koalitionsvertrag verankert ist, bleibt deshalb zentral“, sagt sie. Andere Länder mit ähnlichen Herausforderungen zeigten, dass es „Wege“ gebe. „Von ihren Erfahrungen sollten wir lernen.“
Diese Einschätzung teilt der oberste Lehrer-Chef in Deutschland nicht. Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, erklärt: „Eine Obergrenze für Kinder mit Migrationsbiografie in Schulklassen erscheint zwar auf den ersten Blick als möglicher Lösungsansatz für Bildungsprobleme – praktisch ist sie jedoch kaum umsetzbar.“
„Entgegen dem Prinzip wohnortnaher Beschulung“
In Ballungsräumen wie Berlin oder München liege der Anteil der Bevölkerung mit Migrationsbiografie bei rund 50 Prozent, in manchen Grundschulen sogar bei 80 oder 90 Prozent. „Eine künstliche Begrenzung würde bedeuten, dass Kinder zu ihren Schulen weite Strecken zurücklegen müssten – entgegen dem Prinzip wohnortnaher Beschulung. Zudem erschwert es die schulorganisatorische Praxis, wie etwa Kopplungen für den Religions- und Ethikunterricht oder den Sportunterricht nach Geschlechtern.“
Statt fixer Quoten müsse der Fokus auf frühzeitiger und gezielter Sprachförderung liegen. Kinder, die bereits im Vorschulalter Sprachdefizite zeigten, müssten möglichst früh durch verbindliche Tests identifiziert und gefördert werden. „Ziel ist es, dass Kinder beim Eintritt in die Schule über einen grundlegenden Wortschatz verfügen, um überhaupt sinnvoll am Unterricht teilnehmen zu können“, erklärt Düll.
Andreas Schleicher, Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), weist darauf hin, dass Studien durchaus für die Einführung einer Obergrenze sprächen. Zu Priens Vorschlag sagt er: „Ich sehe das ähnlich, wir wissen aus unseren Vergleichsstudien, dass die Konzentration von Schülern mit Migrationshintergrund ein ganz entscheidender Faktor für Schulleistungen ist. Das heißt, Bildungssysteme, die Schüler mit Migrationshintergrund gleichmäßig verteilen, haben einen ganz entscheidenden Vorteil.“
Aus juristischer Perspektive sieht Josef Franz Lindner, Professor für öffentliches Recht an der Universität Augsburg, bei der vorgeschlagenen Quote die Gefahr einer Kollision mit der Schulpflicht. WELT sagt er: „Wenn mehr schulpflichtige Kinder mit Migrationshintergrund angemeldet werden als nach einer Quote aufgenommen werden dürften, könnten die die Quote ‚übersteigenden‘ Kinder die Schulpflicht nicht erfüllen. Das kollidiert mit den Schulgesetzen der Länder, die die Erfüllung der Schulpflicht für alle Kinder – auch solche mit Migrationsgeschichte – verlangen.“ Entsprechend müssten Schulen auch dann Kinder aufnehmen, wenn die Quote nicht eingehalten werden könne.
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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