Dieser Mann sollte nach dem Willen von Alexander Lukaschenko 20 Jahre im Gefängnis verbringen. Noch vor einem Jahr hätte niemand für möglich gehalten, dass Sergej Tichanowskij, der Mann der exilierten Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, eine Pressekonferenz in Vilnius abhalten könnte.
Körperlich und psychisch ausgemergelt von Haftbedingungen, die der Folter gleichkommen, dankte Tichanowskij seinen europäischen Unterstützern, dem US-Sondergesandten Keith Kellogg und US-Präsident Donald Trump. Nach Kelloggs Besuch in Minsk kamen Tichanowskij und 13 weitere politische Gefangene nach mehrjähriger Haft frei.
Dieser Schachzug Lukaschenkos wirkt auf den ersten Blick irritierend. Keinen anderen seiner Gegner hasst er so sehr wie Tichanowskij. Noch aus der Haft heraus drohte der Oppositionelle dem Diktator, bis der ihm den Kontakt zur Außenwelt abschnitt. Am Ende siegte jedoch der Pragmatismus des belarussischen Präsidenten.
Sein Schritt hatte sich lange angekündigt. Seit einem Jahr ließ er immer wieder Gruppen von politischen Häftlingen frei, darunter einige Europäer und Amerikaner, insgesamt 300 Menschen.
Nach Kontakten mit amerikanischen Vertretern, die Minsk besucht haben, macht Lukaschenko mit der Freilassung Tichanowskijs nun sein Ziel deutlich: Zunächst will er die Amerikaner gnädig stimmen und dann die Europäer.
Der Grund für Lukaschenkos guten Willen: Die Sanktionen gegen den belarussischen Finanzsektor und Schlüsselgüter wie Kalidünger treffen den Diktator heute so hart wie nie zuvor. Lukaschenko hat sich verkalkuliert. Er setzte nach der russischen Großinvasion in der Ukraine auf den Aufschwung der russischen Wirtschaft und stärkte die Industrie- und Rüstungsexporte nach Russland. Heute steht die „Brudernation“ Russland selbst am Rande der Rezession.
Belarussische Wirtschaft in der Krise
Belarus wiederum nähert sich der Planwirtschaft an. Lukaschenko diktiert dem Einzelhandel die Lebensmittelpreise. Das sorgt für leere Regale. Kartoffeln, nicht nur für Lukaschenko ein Symbol des belarussischen Agrarsektors, sind aus den Läden verschwunden, weil der Export nach Russland lukrativer ist.
Die Zentralbank hat jeden Anschein von Unabhängigkeit verloren. Banken werden gezwungen, günstige Kredite anzubieten. Viele Firmeninsolvenzen kann das dennoch nicht abwenden. Selbst russische Investoren wenden sich inzwischen von Belarus ab. Auf massive staatliche Hilfen aus dem Kreml kann Lukaschenko nicht länger zählen.
Dem Diktator geht das Geld aus – selbst verschuldet. Er freut sich auf die Geste der Anerkennung durch Kelloggs Visite. Doch bislang haben die Amerikaner mehr von der Begegnung profitiert als er. Die Freilassung von Tichanowskij ist ein diplomatischer Sieg für das Weiße Haus. Während die Ukraine-Verhandlungen stocken, hat die Trump-Regierung in der Unruheregion Osteuropa einen Fortschritt erzielt.
Aber Lukaschenko braucht mehr: die Wiedereröffnung westlicher Botschaften, den Zugang zum internationalen Kapitalmarkt und den alten Exportweg für belarussischen Kalidünger über den litauischen Ostsee-Hafen Klaipėda. Das ist ohne den Zuspruch der Europäer nicht möglich.
Brüssel und Lukaschenkos Nachbarn in Osteuropa freuen sich zwar über die Freilassung politischer Gefangener, zeigen sich aber unbeeindruckt von den Botschaften des Diktators. Sie wissen, dass Lukaschenko seine inhaftierten politischen Gegner seit Jahrzehnten als Spielball seiner geopolitischen Ziele missbraucht.
Von Moskau abhängig
Doch anders als in den 2000er- und 2010er-Jahren macht der belarussische Inlandsgeheimdienst KGB nach der Freilassungswelle keine Pause bei der Repression. Seit August 2020 geht sie ungebremst weiter. Nach der Freilassung von Tichanowskij berichtete der KGB-Chef von der Verhaftung von 14 neuen ausländischen und belarussischen Staatsbürgern wegen „Spionage“.
Für jeden politischen Gefangenen, dessen Freilassung Kellogg erzielt hat, rücken neue Häftlinge nach. Dazu kommt, dass prominente Gefangene wie Wiktar Babaryka, Maria Kolesnikowa oder der Menschenrechtler und Nobelpreisträger Ales Bjaljazki weiterhin in Haft bleiben – ebenso wie mehr als 1000 weitere Belarussen.
Das macht die Logik, die Lukaschenko den Amerikanern und Europäern schmackhaft machen will, zumindest fragwürdig. Warum sollte es für sein Regime Erleichterungen geben, wenn sich die innen- und außenpolitische Position von Belarus nicht verändert? An der Sicherheitslage für die Europäer dürfte sich so schnell nichts ändern.
Davon, dass er sein Land nicht weiter in den russischen Ukraine-Krieg hineinziehen lassen soll, muss man Lukaschenko ohnehin nicht überzeugen. Dass Belarus keine Soldaten an die Seite der russischen Armee stellt, hat der Autokrat längst zum Kernpunkt seiner Propaganda nach innen gemacht. Für die Stabilität seines Regimes bleibt er jedoch von Moskau abhängig. Seine stillschweigende Unterstützung Russlands als Durchmarschgebiet in der Frühphase des Krieges werden die Ukrainer und Europäer so schnell nicht vergessen.
Russland hat nach Angaben von Lukaschenko „dutzende“ taktische Atomwaffen nach Belarus verlegt. Damit hat der Machthaber den drei Jahrzehnte währenden atomwaffenfreien Status seines Landes gebrochen. Da tut es wenig zur Sache, wenn seine Generäle im Vorfeld der kommenden russisch-belarussischen Manöver „Sapad“ versprechen, ihren Teil der Militärübungen weiter von der Ostgrenze der Nato entfernt abzuhalten als zuvor geplant.
An der Logik der Zugeständnisse zweifelt auch Sergej Tichanowskij. „Die Freilassung von Gefangenen ist nicht genug“, sagte er bei der Pressekonferenz in Vilnius. Lukaschenko müsse „weitere Repressionen stoppen. Sanktionen sollten erst gelockert werden, wenn er politische Reformen einwilligt.“
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
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