Anti-Atom-Gegner warnen seit Längerem vor einem Szenario, das bald Realität werden könnte: Zahlreiche neue Lkw-Transporte mit Atommüll sollen quer durch Nordrhein-Westfalen rollen.

Wie solche Lieferungen konkret aussehen könnten, zeigt die Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN) beispielhaft in Videos einer Probefahrt aus dem Jahr 2023: Ein Sattelschlepper zieht einen langen Anhänger mit einem Schutzbehälter, eskortiert von zahlreichen Polizeiwagen.

152 Castor-Behälter mit fast 300.000 abgebrannten Kugelelementen lagern am ehemaligen Versuchsreaktor in Jülich und sollen ins rund 170 Kilometer entfernte Zwischenlager in Ahaus gebracht werden. Dazwischen liegt einer der größten Ballungsräume Europas. Die JEN hat dafür 152 Einzeltransporte beantragt. Diese könnten nach Ermessen der Polizei auch gebündelt erfolgen.

Insgesamt könnten bis zu zwei Jahre vergehen, bis alle Kugeln nach Ahaus gebracht sind. Zuständig für die Genehmigung ist das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Auf WELT-Anfrage teilt das Amt mit, dass ein Abstimmungsprozess mit dem übergeordneten Bundesumweltministerium laufe und die Genehmigung „im Sommer 2025“ erteilt werden könnte.

Das Lagerproblem in Jülich ist seit Jahren ungelöst. Zwischen Bund und Land hakt es immer wieder bei der Abstimmung – auch wegen unterschiedlicher Auffassungen, was mit dem radioaktiven Material geschehen soll. 2013 lief die Genehmigung für das bestehende Zwischenlager aus, weil es neueren Sicherheitsstandards nicht mehr genügte. 2014 ordnete die damalige rot-grüne NRW-Landesregierung die Räumung an. Ein Transport ins Zwischenlager Ahaus war zunächst nicht möglich, da die Stadt und ein Anwohner Klage einreichten.

Bis zum Abschluss des Verfahrens stellte der Bund eine Transportgenehmigung zurück. Ende 2024 entschied das Oberverwaltungsgericht NRW letztinstanzlich, dass ein Transport zulässig sei. Seither ist auf Bundesebene eine neue Dynamik zu beobachten.

Transporte mitten im Wahlkampf? Schlecht fürs grüne Image

Die Transporte nach Ahaus wären politisch heikel für Nordrhein-Westfalens Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und seiner Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne). Für die Polizei bedeuten sie eine enorme logistische und sicherheitspolitische Belastung, denn auch Sabotageakte und Proteste müssen einkalkuliert werden. Die Probefahrt Ende 2023 hat gezeigt, dass im Ernstfall mit mehreren Dutzend Mannschaftswagen pro Transport zu rechnen ist.

Zugleich bringt das Vorhaben die Wüst-Regierung – insbesondere die Grünen – in eine Glaubwürdigkeitskrise. 2027 steht die nächste Landtagswahl an. Atomtransporte mitten im Wahlkampf könnten die Ausgangslage für die Grünen erheblich erschweren. Proteste sind zu erwarten, insbesondere in Ahaus, aber möglicherweise auch entlang der geheim gehaltenen Transportrouten.

Dabei hatte sich das schwarz-grüne Bündnis 2022 im Koalitionsvertrag auf eine andere Priorität verständigt: „Wir setzen uns für eine Minimierung von Atomtransporten ein. Das gilt auch für Transporte aus anderen Bundesländern. Im Fall der in Jülich lagernden Brennelemente bedeutet dies, dass wir die Option eines Neubaus eines Zwischenlagers in Jülich vorantreiben.“

Dieser Anspruch wurde zumindest zeitweise erfüllt: Die Zahl der Transporte von Kernbrennstoffen und sonstigem radioaktivem Abfall durch NRW halbierte sich von 919 im Jahr 2022 auf 458 im Jahr 2023. Doch im Jahr 2024 wurde ein Anstieg auf insgesamt 650 Fahrten registriert.

Die Idee eines neuen Zwischenlagers in Jülich für die 152 Castor-Behälter ist bislang jedoch kaum konkretisiert worden. Das Land betont zwar, einige Vorarbeit geleistet zu haben. Auf WELT-Anfrage heißt es aus dem Haus von Wirtschaftsministerin Neubaur, die Lagerung am Standort Jülich in einem noch zu bauenden Zwischenlager sei „die tragfähigere Alternative zu einem Transport“. Man habe auch Haushaltsmittel für den Erwerb von Grundstücken zur Unterstützung des Neubaus eingeplant.

Dafür müsste der Bund einem Flächenkauf zustimmen, sich maßgeblich an den Kosten beteiligen und zudem eine Aufbewahrungsgenehmigung für das bestehende Zwischenlager zur Überbrückung erlassen. Das Neubaur-Ministerium betont, dass die Hauptverantwortung für die Lösung beim Bund liege.

Der Bund wiederum betrachtet inzwischen den Transport nach Ahaus als die vorzugswürdigere Option – weil schneller umsetzbar und deutlich günstiger. Der Bau eines neuen Zwischenlagers in Jülich sowie die Unterhaltskosten über mindestens 50 Jahre würden laut Schätzungen rund 550 Millionen Euro betragen, die Bauzeit mehrere Jahre. Dagegen sollen die Vorbereitungs- und Transportkosten bei rund 90 Millionen Euro liegen – ohne Polizeikosten.

Der Haushaltsausschuss des Bundestages – auch mit Zustimmung der Grünen – sprach sich Ende 2022 deshalb für die Transportvariante aus, „falls das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) die Mehrkosten eines Neubaus in Jülich nicht tragen möchte“. Eine entsprechende Absichtserklärung des Landes sei der Bundesregierung jedoch nicht bekannt, erklärte Staatssekretärin Claudia Müller (Grüne) im April 2025 auf eine Anfrage der Linke-Fraktion.

Für die SPD-Opposition im Landtag ist das ein klares Zeichen, dass die schwarz-grüne Landesregierung es mit ihrer politischen Priorität, den Atommüll in Jülich zu belassen, nicht ernst meine. Ministerin Neubaur habe „keine einzige Initiative übernommen, eine Neubauoption in Jülich auch nur voranzutreiben“, kritisiert SPD-Fraktionsvize André Stinka. Für den Neubau gebe es weder einen Genehmigungsantrag noch ein erdbebensicheres Konzept.

Die Gegner der Transportvariante führen weitere Argumente an: Das Zwischenlager in Ahaus verfügt über keine sogenannte „heiße Zelle“, also keine Einrichtung, in der beschädigte Castorbehälter geöffnet oder radioaktive Stoffe umgelagert werden könnten. Im Schadensfall müsste ein solcher Behälter an einen geeigneten Ort gebracht werden, etwa zurück nach Jülich. Das BASE betont jedoch, dass bislang noch nie ein Castorbehälter geöffnet werden musste. Zudem gebe es technische Alternativen zur „heißen Zelle“, die sich in der Praxis bewährt hätten.

Ein weiterer Kritikpunkt: Das Zwischenlager Ahaus ist derzeit nur bis 2036 genehmigt. Der Betreiber hat jedoch angekündigt, rechtzeitig eine Anschlussgenehmigung zu beantragen. Ahaus erwartet zudem weitere Castorbehälter aus anderen Forschungsreaktoren. Es ist mit einer Betriebsdauer von einigen Jahrzehnten auszugehen – bis ein Endlager zur Verfügung steht.

Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen.

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