Franziska Brantner, 45, ist seit November 2024 Bundesvorsitzende der Grünen. Sie ist seit 2013 Mitglied des Bundestags.

WELT: Frau Brantner, glauben Sie, Frauke Brosius-Gersdorf wird noch Verfassungsrichterin?

Franziska Brantner: Die Frage ist, wer hat in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mehr Einfluss: „Nius“ und Julian Reichelt (Leiter des Portals, d. Red.) – oder Jens Spahn und Friedrich Merz?

WELT: Unterer anderem diese Plattform verbreitete, die Jura-Professorin sei eine „linksradikale Aktivistin“, wolle Abtreibungen bis zum neunten Monat. Noch am Freitagmorgen hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann dem widersprochen und betont: Brosius-Gersdorf habe in verschiedenen juristischen Schriften klargestellt, das Grundrecht auf Leben gelte auch für den Embyro, trotz anders klingender einzelner Sätze der Juristin. Wieso drang das nicht durch?

Brantner: Offenbar haben einige Unions-Abgeordnete kursierenden Sharepics (Bilder mit kurzen Texten in sozialen Medien, d. Red.), die Frau Brosius-Gersdorf solche Vorhaben unterstellten, mehr vertraut und sich überhaupt nicht mit dieser Person auseinandergesetzt. Viele Abgeordnete der Union sind schlicht ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, sich vorab gründlich zu informieren, wozu uns Abgeordneten ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen.

WELT: Am Freitagmorgen brachte die Union dazu noch einen Plagiatsvorwurf gegen Brosius-Gersdorf ins Spiel, dem kurz darauf selbst „Plagiatsjäger“ Stefan Weber widersprach: Es gehe um andere, viel kleinteiligere akademische Fragen.

Brantner: Wenn der „Plagiatsjäger“ selbst schon sagt, liebe CDU, jetzt hört mal damit auf – das heißt dann schon was. Es war ja offensichtlich nur der Strohhalm, an den die Union sich zu klammern suchte.

WELT: Grünen-Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann sah die Kampagne gegen Brosius-Gersdorf auch als sexistisch motiviert. Hat sie recht?

Brantner: Plötzlich wurde zum Beispiel die Kinderlosigkeit der Kandidatin thematisiert. Es ist absurd, welche Scheinargumente in diesem Land mittlerweile benutzt werden. Aber es ist leider ein Schema, das man, auch weltweit, von autoritären Kräften kennt: Wenn die Position einer Frau nicht passt, dann diskreditiert man sie einfach komplett.

WELT: Hauptanlass für die Kritik an der Kandidatin ist ihre Einstellung zur Menschenwürde von Embryos – wobei Brosius-Gersdorf auch argumentierte, dass ab der „späten Schwangerschaftsphase grundsätzlich ein ,Recht auf Austragung bis zur Geburt‘“ bestehe. Über ähnliche Fragen war bereits ihr Doktorvater Horst Dreier 2008 als Verfassungsgericht-Kandidat gescheitert. Hätte Spahn nicht vor vielen Wochen schon ein Konfliktpotenzial sehen und Brosius-Gersdorf als Kandidatin ablehnen müssen?

Brantner: Jens Spahn ist derzeit einerseits offenkundig mit der Maskenaffäre beschäftigt, und andererseits ist es nun das zweite Mal, das seine Fraktion ihm entgleitet – wie bei der zunächst gescheiterten Kanzlerwahl von Friedrich Merz. Es wäre natürlich das gute Recht der Union gewesen, auf Bedenken vor der Nominierung von Frau Brosius-Gersdorf hinzuweisen. Ich betone: vor der Nominierung. So war es bei ihrem Doktorvater Dreier, und auch wir Grünen haben in dem Sondierungsprozess, in dem sich innerhalb des Bundestags auf Kandidaten verständigt wird, schon Kandidaten anderer Fraktionen abgelehnt.

Was in dieser Woche geschehen ist, ist etwas völlig anderes. Es ist inakzeptabel, sich erst mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit am Montag in dem dafür zuständigen Bundestagsgremium (Wahlausschuss, d. Red.) auf eine Kandidatin zu einigen, um sie dann am Freitag durchfallen zu lassen. Und das im Wesentlichen aufgrund einer Hetzkampagne gegen eine Bundesverfassungsgerichts-Kandidatin, die in der Union auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Bevor „Nius“ und andere mit ihrer Kampagne begannen, hatten die Abgeordneten, die Bedenken äußerten, offenbar keinen Bedarf gesehen, sich näher mit dieser Kandidatin zu beschäftigen.

WELT: Laut Aussagen Ihrer Fraktionsspitze haben Union und SPD den Grünen bereits vor fünf Wochen die Namen der Kandidaten mitgeteilt – ausreichend Zeit für eine Debatte innerhalb der CDU/CSU-Fraktion bestand offenbar. Etwa auch darüber, dass Brosius-Gersdorf für die Impfpflicht gewesen sein soll – was Ende 2021 in der Bevölkerung mehrheitsfähig war.

Brantner: Vor allen Dingen in der Union, wenn ich das mal so sagen darf. Da muss man immer mal dran erinnern, dass das damals keine linke Position war. Ich verstehe ohnehin nicht, wie man glauben kann, dass Frau Brosius-Gersdorf besonders links ist. Sie ist vielmehr eine klassische Liberale; ihre Positionen zur Sozialpolitik, etwa zum Rentenalter, sind viel näher an der FDP als an der SPD.

WELT: Ist das Verfassungsgericht nun beschädigt?

Brantner: Nach dieser Kampagne, der sich die Union angeschlossen hat, stehen nun für jeden Tür und Tor offen, einzelne Richter zu delegitimieren aufgrund von ihren vormals vertretenen Positionen. Damit legt man die Axt an das Fundament unserer Demokratie. Denn bei den 16 Richterinnen und Richtern in Karlsruhe geht es auch darum, dass sie innerhalb des Verfassungsrahmens die Meinungsvielfalt dieses Landes abbilden.

Und gleichzeitig haben diese Richter immer wieder bewiesen, dass sie ganz unabhängig von vergangenen Positionen oder Parteien, die sie nominiert haben, auf Grundlage unserer Verfassung zu neuen Positionen finden können. Dass das möglich ist, wurde nun auch aus der Mitte des Parlaments heraus infrage gestellt durch diese massive Politisierung einzelner Richterkandidaten.

WELT: Würde zur Legitimation des Gerichts nicht helfen, der Linken und der AfD Wahlvorschläge dort zuzugestehen, wenn man betont: Die 16 Richter finden eigenständig zu Positionen, und Einzelne können auch in diesem Sinne keinen „Schaden“ anrichten?

Brantner: Schaden anrichten könnten Richter dort sehr wohl, wenn sie sich etwa nicht an die Prozesse dort halten, Informationen herausgeben und so weiter. Bei der AfD, die sich immer weiter radikalisiert, stellt sich die Frage nach einem möglichen eigenen Vorschlagsrecht nicht.

WELT: Brosius-Gersdorf ist seit dem Wahlausschuss am Montag die per Zwei-Drittel-Mehrheit gewählte Kandidatin des Bundestags für das Bundesverfassungsgericht. Ist es für Ihre Partei zwingend, dass sie erneut zur Wahl gestellt wird im Plenum – und würden die Grünen, sollte die SPD ihre Kandidatin am Ende doch fallen lassen und eine andere Person aufstellen, bei anderen Kandidaten mit Nein stimmen oder sich enthalten?

Brantner: Ich finde, es gibt eine sehr große Verantwortung für alle Personen, die man in einem solchen Prozess nominiert. Es braucht eine demokratische Mehrheit, die demokratisch die Menschen unterstützt, die in solche Verfahren geschickt worden sind. Und hinsichtlich von Frau Brosius-Gersdorf muss ich hinzufügen, dass ich es einfach auch sehr beschämend finde, wie mit dieser Frau umgegangen worden ist, wie diese Frau beschämt worden ist.

Das stellt auch die Frage: Wer soll sich angesichts dieser Kampagne eigentlich in Zukunft noch aufstellen lassen für die Richterwahl? Es kann einfach nicht sein, dass man zulässt, dass eine Frau, die man mit Zwei-Drittel-Mehrheit nominiert, dann wie Freiwild einmal durch die Manege geführt wird.

WELT: Muss Jens Spahn sich bei Frauke Brosius-Gersdorf entschuldigen?

Brantner: Es gibt einige Leute, die sich bei ihr entschuldigen müssen.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.

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