Die Stromversorgung, das Wasserwerk, das Gasnetz, die IT-Systeme. Sie alle bilden das Rückgrat eines funktionieren Staates. Doch was, wenn sie plötzlich ausfallen? Was, wenn Sabotage, Cyberattacken oder politische Extremisten gezielt versuchen, genau diese Strukturen lahmzulegen? Kritische Infrastrukturen gelten als stilles Sicherheitsrisiko und stehen zunehmend im Fokus von Attacken.

Martin Debusmann kennt diese Gefahren genau. Als Vorsitzender der Kommission Kritische Infrastrukturen (KKI) und Vorstandsmitglied beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ist er mitverantwortlich für die Sicherheit der Versorgungssysteme in der Hauptstadtregion. Im Interview spricht er über reale Bedrohungsszenarien, strukturelle Schwächen und erklärt, warum Berlin besonders verwundbar ist.

WELT: Herr Debusmann, wenn heute über kritische Infrastrukturen gesprochen wird, fallen fast reflexhaft Begriffe wie Blackout, Cyberattacke, Gasmangel, Sabotage. Was ist aus Ihrer Sicht aktuell die größte Gefahr?

Martin Debusmann: Ich sehe weniger eine einzelne Bedrohung – vielmehr bereiten uns Überlagerungen und Kaskadeneffekte Sorgen: also Situationen, in denen mehrere Krisen gleichzeitig oder ineinandergreifend, kaskadierend auftreten. Unsere Systeme funktionieren im Alltag sehr robust, auch wenn es täglich Störungen gibt – mal kleinere, mal größere. Denken Sie etwa an den Stromausfall in Berlin-Köpenick, den Ausfall der Fernwärme in Lichtenberg oder den Wasserrohrbruch an Silvester in Wedding. Auch solche Großstörungen haben wir nach kurzer Zeit wieder im Griff und zeigen, dass wir grundsätzlich gut aufgestellt sind. Doch sobald es zu Kaskaden oder bewussten Angriffen kommt, betreten wir ein anderes Risikofeld.

WELT: Was macht diese Vernetzung so anfällig?

Martin Debusmann: Weil alles mit allem zusammenhängt. Strom, Wasser, Gas, IT – ein Ausfall in einem Bereich kann sofort Auswirkungen auf andere Sektoren haben. Und die Hauptstadtregion ist da besonders sensibel: Berlin importiert nahezu alle lebensnotwendigen Ressourcen. Die Abhängigkeit ist riesig. Wenn man das auf realistische Bedrohungsszenarien überträgt – sei es durch Cyberangriffe, Sabotageakte, Naturkatastrophen oder koordinierte politische Aktionen –, dann wird schnell klar, wie verwundbar ein so komplexes System sein kann.

WELT: Wie bereitet sich das Kompetenzzentrum Kritische Infrastrukturen (KKI) auf solche Szenarien vor?

Martin Debusmann: KKI ist ein Zusammenschluss von Infrastrukturbetreibern, vor allem aus den Bereichen Energie, Wasser und leitungsgebundene Versorgung. Wir tauschen uns über Risiken aus, analysieren Schwachstellen, beobachten internationale Entwicklungen. Gleichzeitig haben wir begonnen, konkrete Forderungen an die Politik zu formulieren. Denn vieles, was heute versäumt wird, fällt uns morgen auf die Füße.

WELT: Sie sprechen von fünf Forderungen an die Politik in Berlin-Brandenburg. Was genau fordern Sie?

Martin Debusmann: Erstens: Die Bevölkerung muss besser auf Krisensituationen vorbereitet werden – durch Aufklärung, Notfallpläne, Eigenvorsorge. Wir können von Ländern wie Finnland oder Schweden lernen, wo es selbstverständlich ist, für ein paar Tage autark leben zu können.

Zweitens: Wir müssen sektorübergreifend Risiken identifizieren und Schwachstellen analysieren, also nicht nur im Strom- oder Wasserbereich, sondern übergreifend mit Behörden, Verkehrsunternehmen, medizinischen Einrichtungen.

Drittens: Es braucht eine zentrale Koordinationsstelle für Krisenlagen, unabhängig davon, ob es sich um eine Pandemie, einen Terroranschlag oder einen Infrastrukturausfall handelt. Momentan wechseln die Zuständigkeiten je nach Lagebild von Behörde zu Behörde und das ist hochgradig ineffizient und verhindert, dass alle Erfahrungen zusammenlaufen.

Viertens: Wir müssen regelmäßig gemeinsam üben und aus realen Ereignissen lernen. Jede Krise ist auch ein Stresstest für Strukturen, aus der wir Learnings mitnehmen müssen.

Fünftens: Wir fordern einen verantwortungsvolleren Umgang mit sensiblen Infrastrukturdaten. Ich nenne ein Beispiel: Im Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur sind sämtliche Energieanlagen mit exakten Geokoordinaten veröffentlicht. Das ist eine Art Blaupause für Sabotageakte – eine Einladung, wenn Sie so wollen. Während personenbezogene Daten maximal geschützt werden, geht man mit kritischen Versorgungsdaten viel zu offen um. Das ist ein gefährliches Missverhältnis.

WELT: Was läuft aus Ihrer Sicht bei der Zusammenarbeit mit Behörden schief?

Martin Debusmann: Die Kommunikation ist häufig eine Einbahnstraße. Wir als Betreiber melden regelmäßig Störungen – das ist Pflicht. Aber wir selbst bekommen selten strukturierte Rückmeldungen. Ich erfahre auf Kongressen oder in Vorträgen von Vorfällen und frage mich: Warum wurde das nicht allen Betreibern mitgeteilt? Warum gibt es keine systematische Plattform für Austausch, Warnung, Lernen? Es fehlt an Dialogkultur.

WELT: Das ist bemerkenswert. Grade bei der Sensibilität der Themen.

Martin Debusmann: Absolut. Die Betreiber kritischer Infrastrukturen sollen Vorfälle anzeigen und tun das auch. Aber wenn wir daraus nichts zurückbekommen, ist es schwer, daraus Investitionsentscheidungen abzuleiten. Sicherheitsmaßnahmen sind teuer, sie müssen begründet sein: technisch, wirtschaftlich, strategisch. Wenn ich aber nicht weiß, was an anderer Stelle passiert ist, fehlt mir diese Grundlage.

WELT: Beobachten Sie in Berlin und Brandenburg eine Zunahme konkreter Angriffe?

Martin Debusmann: Ja, wir sehen vermehrt Störungen, manche sind politisch motiviert, andere kriminell, einige mutmaßlich, um unsere Reaktionszeiten zu testen. Es gab Angriffe durch Klimaaktivisten, aber auch durch linksextreme Gruppen wie die sogenannte „Vulkangruppe“. Zusätzlich erleben wir regelmäßig Kabeldiebstähle, etwa an Bahnstrecken oder in Kraftwerken. Und man kann sich schon fragen, ob das wirtschaftlich motiviert ist, wenn wie im April ein halber Meter Kabel bei der S-Bahn gestohlen wird, für das sie keine zehn Euro auf dem Schwarzmarkt bekommen.

WELT: Würden Sie sagen, es braucht auch innenpolitisch eine Zeitenwende im Sicherheitsverständnis?

Martin Debusmann: Ja, unbedingt. Ich nenne das die „stille Zeitenwende“ im Inneren. Es geht nicht um Militär, sondern um Resilienz: Zivilschutz, Vorwarnsysteme, strukturelle Redundanz. Wir müssen lernen, auch gegenwärtige Komfortzonen zu verlassen. Früher war das Anlegen von Vorräten verpönt, heute ist es wieder eine Empfehlung. Die Bevölkerung ist aufnahmebereiter als man glaubt. Jetzt muss die Politik liefern.

WELT: Was müsste konkret passieren?

Martin Debusmann: Behörden müssen mehr technisches Verständnis für die Systeme entwickeln, die sie schützen wollen. Es braucht eine systematische Einbindung der Betreiber in die Sicherheitsarchitektur. Sensible Daten dürfen nicht leichtfertig veröffentlicht werden. Und wir brauchen gemeinsame Übungen, auch mit Sicherheitsbehörden.

WELT: Sie sprechen viel über Kooperation. Wie offen sind Behörden aus Ihrer Erfahrung dafür?

Martin Debusmann: In Einzelfällen gibt es gute Gespräche, etwa wenn Bundeswehrangehörige sich bei uns Produktionsanlagen oder Netzinfrastruktur anschauen, um zu verstehen, wie diese funktionieren. Aber das müsste institutionalisiert werden. Nur wer versteht, wie Systeme konkret aufgebaut sind, kann sie auch schützen. Und umgekehrt gilt: Nur wer die Bedrohung kennt, kann richtig investieren. Im Moment fehlen uns oft beide Perspektiven.

WELT: Wie können wir verhindern, dass wir immer erst nach einer Krise handeln?

Martin Debusmann: Indem wir frühzeitig miteinander reden. Und indem wir den Mut haben, unsere Komfortzone zu verlassen. Prävention ist unbequem, oft teuer, aber immer günstiger als Reaktion. Und sie ist Voraussetzung für Vertrauen in eine resiliente Gesellschaft.

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