Bei der Union wollen sie am liebsten nicht darüber reden, des ohnehin brüchigen Koalitionsfriedens wegen. „Wenn ich das sagen würde, was ich denke, würde ich den nächsten Streit vom Zaun brechen“, sagt ein CDU-Politiker. Es geht um eine weitere Expertenkommission der schwarz-roten Regierung: jene zur Modernisierung der Schuldenregel.

Die 15-köpfige Kommission kommt nach WELT-Informationen am 11. September um 10 Uhr zu ihrer konstituierenden Sitzung im Bundesfinanzministerium zusammen. Nur zwei Monate hat die Gruppe dann Zeit für einen Vorschlag, der „dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes ermöglicht“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Bis zum 15. November muss der Abschlussbericht vorliegen, lautet die Vorgabe. Notwendige Gesetzesänderungen sollen bis März 2026 umgesetzt sein.

„Wir brauchen eine kluge Modernisierung der Schuldenbremse, die beides sicherstellt: dauerhafter Handlungsspielräume für Investitionen und die Begrenzung der Schuldenlast.“ Mit diesen Worten ließ sich SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil bereits Ende Juli zitieren.

Breites Spektrum von Experten

Die Bandbreite der Experten ist groß. Sie reicht von dem von der Union ins Rennen geschickten Frankfurter Ökonomieprofessor und ehemaligen Wirtschaftsweisen Volker Wieland, der sich seit Jahren gegen eine Aufweichung der Schuldenbremse ausspricht, bis hin zu Isabella Weber, die an der University of Massachusetts Amherst lehrt und die Schuldenbremse am liebsten längst gestrichen hätte. Sie wurde von der Linkspartei berufen. Auch SPD und Grüne haben Experten platziert, die den jeweiligen politischen Überzeugungen der Parteien nahe sind.

Dass sich die Kommission erst Mitte September zum ersten Mal trifft, mag an den Sommerferien liegen. Es zeigt aber auch, dass es nicht jeder der Beteiligten eilig hat bei dem Thema. Denn bei CDU und CSU will man von noch mehr Schulden eigentlich gar nichts wissen.

In dem 500-Milliarden-Euro-Topf für Infrastruktur und der Ausnahme für Verteidigungsausgaben sehen viele einen Verrat an den über Jahre hinweg gepflegten Grundüberzeugungen der Partei. Das gebrochene Schuldenversprechen direkt nach der Bundestagswahl wirkt bis heute nach.

Die unterschiedlichen Erwartungen von Schwarz und Rot an die Arbeit der Kommission zeigen sich schon in der Besetzung des dreiköpfigen Vorsitzes mit ehemaligen Politikern, die die Arbeit der Ökonomen und Verfassungsrechtler koordinieren soll. Die SPD schickt den ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Stephan Weil, in die Kommission. Er forderte schon vor fünf Jahren Änderungen an der Schuldenbremse, wie sie seit 2009 im Grundgesetz verankert ist.

Von CDU und CSU wurden mit den Ex-Parlamentariern Eckhardt Rehberg und Stefan Müller dagegen zwei geschickt, die zu ihrer aktiven Zeit als Gegner jeder Lockerung auftraten. Besonders Rehberg, einst Chefhaushälter der Unionsfraktion, war um deutliche Worte in dem Zusammenhang selten verlegen.

2019 warf er den Befürwortern neuer Schulden „Geschichtsvergessenheit“ vor. Die Eurokrise 2008/2009 sei eine Folge der Überschuldung gewesen. Die Linksfraktion, so Rehberg im Parlament, rede zwar von Investitionen, meine aber massive Ausgabensteigerungen. Es ging um einen Antrag der Linkspartei, die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz zu streichen und dafür eine Investitionspflicht einzuführen. „Früher haben Linke für Gerechtigkeit und Chancengleichheit gekämpft. Heute für neue Schulden“, wetterte er damals.

Linkspartei will dauerhaft mehr Schulden machen

Für neue Schulden kämpft die Linkspartei heute immer noch. Der Unterschied zu 2019 ist, dass sich die Kräfteverhältnisse im Parlament verändert haben. Wenn die schwarz-rote Koalition die Schuldenbremse tatsächlich grundsätzlich – also im Grundgesetz – modernisieren will, ist sie auf die Stimmen der Linkspartei und auch der Grünen angewiesen, da eine Zusammenarbeit mit der AfD von allen Regierungsparteien ausgeschlossen wird.

Entsprechend selbstbewusst gibt sich die Linkspartei. „Für uns als Linke ist klar: Wir stimmen nur zu, wenn die Reform eine langfristige Verbesserung für die Menschen bedeutet. Städte und Gemeinden müssen wieder finanziell handlungsfähig werden, die breite Bevölkerung muss spürbar profitieren“, sagt die Co-Vorsitzende Ines Schwerdtner. Die Schuldenregeln müssten so verändert werden, dass Investitionen in Bildung, Gesundheit, soziale Infrastruktur und Klimaschutz dauerhaft möglich seien.

Ähnlich klingt das bei den Grünen. „Wir erwarten von der Kommission Vorschläge für eine schlanke, gute Regelung, die dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur und die Zukunft des Landes dauerhaft ermöglicht und nicht verhindert“, sagt der für Haushalts- und Steuerfragen zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andreas Audretsch. Es brauche eine „saubere, dem Grundgesetz würdige Lösung“, nicht nur Kosmetik. Darauf sollten sich am Ende alle auf Basis der Kommissionsvorschläge einigen.

Allerdings ist längst nicht klar, ob die Stimmen von Linke und Grünen am Ende überhaupt gebraucht werden. Das hängt davon ab, wie weit die Vorschläge der Kommission gehen. Es sind Reformen denkbar, für die das Grundgesetz nicht geändert werden muss und deshalb auch keine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig ist.

Dazu gehört die Frage, unter welchen Umständen die Autobahn GmbH in Zukunft eigene Schulden für den Ausbau ihres Straßennetzes aufnehmen darf, statt wie bislang auf das Geld und damit auch die Schulden des Bundes angewiesen zu sein. Für eine solche Neuregelung würden die Stimmen von CDU, CSU und SPD reichen.

Gleiches gilt für den Punkt der Tilgungsverpflichtung. In Artikel 115 des Grundgesetzes steht zwar, dass Notlagenkredite, wie sie während der Corona-Pandemie und der Energie-Krise aufgenommen wurden, innerhalb eines „angemessenen Zeitraums“ zurückgezahlt werden müssen. Doch Start und Länge des Zeitraums lassen sich mit einfacher Mehrheit bestimmen.

Bei den Tilgungsverpflichtungen handelt es sich für die Bundesregierung und den Finanzminister um ein drängendes Problem angesichts der Haushaltslücken der nächsten Jahre. Bislang ist vorgesehen, dass die Notlagenkredite ab 2028 zurückgezahlt werden, jedes Jahr wären das 9,2 Milliarden Euro. Hinzu kommen ab 2028 Rückzahlungen in Höhe von jährlich 3,2 Milliarden Euro für das 100-Milliarden-Euro Sondervermögen der Bundeswehr. Fiele diese Verpflichtung weg oder würde weiter in die Zukunft geschoben, würden die schwarz-roten Haushaltsprobleme entsprechend kleiner.

Interessant ist in dem Zusammenhang, was im Koalitionsvertrag zur Reform der Schuldenbremse steht. Dort ist von einer „Gesetzgebung“ die Rede, die zur Modernisierung der Schuldenbremse notwendig wird. Dass es eine Grundgesetzänderung sein muss, steht dort nicht.

Während sich Weil, Rehberg und Müller vor der ersten Sitzung nicht öffentlich zu den Zielen der Kommission äußern wollen, gibt es seitens der Regierungsfraktionen durchaus klare Vorstellungen – zumindest bei der SPD. „Von dieser Kommission erwarten wir als SPD-Fraktion eine sach- und zielorientierte Diskussion darüber, wie der Staat auch in Zukunft handlungsfähig bleibt, um in unsere Kinder, in gute Bildung, in eine moderne Infrastruktur und in den Schutz unseres Klimas zu investieren“, sagt die stellvertretende Vorsitzende Wiebke Esdar. Eine Schuldenregel, die notwendige Investitionen unmöglich mache, sei nicht generationengerecht.

Dabei denkt Esdar nicht nur an Schulen, Brücken und Klimaschutz. „Auch den Handlungsspielraum für Investitionen, um fair bezahlte Jobs und stabiles Wirtschaftswachstum zu sichern, müssen wir mitdenken“, sagt sie. Dies hört sich nach einer weitreichenden Definition des Investitionsbegriffs an, um noch sehr viel höhere Zusatzschulden zu rechtfertigen.

Bei der Unionsfraktion will sich namentlich dagegen niemand zitieren lassen. Es gibt lediglich ein Sprecher-Zitat aus der Pressestelle. Wobei auch hier die inhaltliche Abneigung durchscheint: „Letztlich geht es neben der zukünftigen Ausgestaltung einer nachhaltigen, wachstumsfördernden und zukunftsfesten deutschen Haushaltspolitik auch um die haushaltspolitische Vorbildfunktion Deutschlands in Europa.“

Es ist ein Satz, der an den ehemaligen Finanzminister Christian Lindner (FDP) erinnert. Dieser rechtfertigte die Schuldenbremse gerne mit dem Verweis auf Deutschland als Stabilitätsanker des Euro und damit Europas. Wohin Lindners hartnäckiger Widerstand gegen eine Lockerung der Schuldenbremse führte, ist bekannt: zum Aus der Ampel-Regierung.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.

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