Als Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU) spricht Ingbert Liebing für mehr als 1600 Firmen, darunter rund 800 Stadtwerke und Versorger, die die Energiewende vor Ort umsetzen. Die Kritik an den energiepolitischen Plänen von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hält er für wenig begründet.

WELT: Herr Liebing, Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche wird dafür kritisiert, den deutschen Strombedarf für 2030 rund 20 Prozent niedriger zu schätzen als es die Ampelregierung tat. Es heißt, sie zeige damit, dass sie nicht wirklich an die konjunkturelle Erholung in Deutschland glaubt. Ist die Kritik berechtigt?

Ingbert Liebing: Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und nichts anderes haben die Gutachter und Katherina Reiche getan. Deutschlands Stromverbrauch ist in den letzten Jahren stetig gesunken. Die Ampelkoalition hatte die Prognose des Strombedarfs für 2030 sogar noch hochgesetzt, doch passiert ist das Gegenteil: Der Stromverbrauch ist in den letzten drei Jahren weiter gesunken, auf aktuell nur noch 518 Terawattstunden. Das ist die Realität. Und es ist der Auftrag der Bundeswirtschaftsministerin, die Energiewende auf eine realistische Grundlage zu stellen und dafür zu sorgen, dass die Energiewende bezahlbar bleibt. Insofern kann ich die Kritik nicht nachvollziehen.

WELT: Es heißt, Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie. Und mit ihrer pessimistischen Prognose zum Energiebedarf verbreite Reiche nur schlechte Stimmung unter potenziellen Investoren.

Liebing: Investoren richten sich doch nicht nach Fantasiezahlen. Deshalb gehört es für mich zur Psychologie dazu, mehr Realismus einkehren zu lassen. Viele Ziele der Ampelkoalition, die zu mehr Stromverbrauch hätten führen können, sind, wie wir heute wissen, nicht mehr erreichbar. Wir werden bis 2030 keine 15 Millionen Elektroautos auf den Straßen sehen, keine 6 Millionen Wärmepumpen in den Gebäuden und keine Elektrolyseure mit 10.000 Megawatt. Kein einziges dieser politischen Ziele ist auf dem Zielpfad. Und trotzdem fordern die Kritiker von Katherina Reiche, dass wir weiter machen sollen wie bisher. Das wäre kein sinnvoller Einsatz von knappen Ressourcen und Steuergeldern.

WELT: In ihrem letzten Bericht zur Versorgungssicherheit nahm allerdings auch die Bundesnetzagentur einen hohen Strombedarf von 750 Terawattstunden zum Ende des Jahrzehnts an.

Liebing: Weil sie da noch davon ausging, dass das politische Ziel von 15 Millionen Elektroautos auch erreicht wird. Es sind heute kaum 1,5 Millionen E-Autos auf der Straße. Der Strombedarf wird nicht politisch entschieden und nicht danach, was psychologisch wünschenswert ist. Wenn Katherina Reiche jetzt von einem Strombedarf von über 600 Terawattstunden ausgeht, ist das immer noch eine Steigerung von fast 20 Prozent in nur fünf Jahren. Schon das muss erst einmal vor Ort umgesetzt werden.

WELT: Können wir uns denn teuren Netzausbau sparen, wenn wir von einem niedrigeren Stromverbrauch ausgehen?

Liebing: Bei den Verteilnetzen lässt sich kurzfristig dadurch wenig sparen. Unsere Stadtwerke wissen, dass sie in den nächsten Jahren die Netzkapazitäten verdoppeln müssen. Schon das ist ein gewaltiger Brocken. Aber danach geht es weiter. Perspektivisch sprechen wir von einer Verdrei- oder Vervierfachung der Kapazitäten. Wenn wir das in kürzester Zeit bauen müssten, weil wir von einer unrealistisch hohen Stromnachfrage ausgehen, treibt das ohne Grund die Preise in die Höhe. Je schneller ich bauen muss, desto teurer wird es, weil das Angebot am Markt nicht größer wird und die Nachfrage steigt. Wir haben doch heute schon Probleme, bestimmte Komponenten auf dem Markt überhaupt zu bekommen. Deshalb ist eine realistische Verbrauchsprognose für die Kosteneffizienz so wichtig.

WELT: Die Kritiker sagen auch, dass die Wirtschaftsministerin aus dem an sich untadeligen Monitoringbericht zum Stand der Energiewende einfach die falschen Schlüsse gezogen habe: So schlecht wie Katherina Reiche suggeriere, hätten die Gutachter die Energiewende gar nicht beschrieben.

Liebing: Auch diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Die vom Wirtschaftsministerium beauftragten Gutachter haben vorliegende Studien zur Energiewende zusammengefasst und verglichen. Die Institute haben in ihrem Energiewende-Monitoring in sieben unterschiedlichen Bereichen insgesamt 28 Handlungsoptionen aufgezeigt, was man alles besser machen kann. Das ist doch kein Gutachten, das ein „Weiter-so“ in der Energiepolitik empfiehlt. Eine deutliche Kurskorrektur der Energiewende in Richtung Wirtschaftlichkeit ist nötiger denn je. Damit die Energiewende gelingt und bezahlbar bleibt, sollte das Ministerium nun zügig erste Gesetzesentwürfe vorlegen, damit die Diskussion konkret wird, Entscheidungen getroffen werden, Unternehmen Planungssicherheit bekommen und wir ins Handeln kommen.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.

Daniel Wetzel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Energiewirtschaft und Klimapolitik. Er wurde 2007 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit dem Robert-Mayer-Preis ausgezeichnet und vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität Köln 2009 mit dem Theodor-Wessels-Preis.

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