Vor einem Jahr machte Christian Lindner (FDP) auf dem Weg zum Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) extra einen Zwischenstopp in New York, um vor Unternehmern und Investoren Werbung für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu machen. Der Standort sei besser als sein Ruf, erklärte er als Gast des ehrwürdigen University Club in Manhattan. Gerade verhandele er in der Ampel-Koalition eine 49 Punkte umfassende Wachstumsinitiative, versuchte er zu locken.

Lars Klingbeil (SPD) wiederholte die Werbeaktion nicht in New York, sondern direkt in Washington, am Rande des IWF-Treffens. Der gewählte Rahmen war ähnlich nobel wie bei Lindner: das Waldorf Astoria Hotel. Eingeladen hatte die Investmentbank Barclays. Während die Vertreter von Fonds und Banken aus aller Welt speisten, sprach Klingbeil vom 500 Milliarden Euro schweren Sondertopf für die Modernisierung der maroden Infrastruktur im Land, von der ersten Unternehmenssteuerreform seit vielen Jahren und vom geplanten Deutschlandfonds, der nicht nur mit öffentlichem, sondern auch mit privatem Kapital gefüllt werden soll.

Was Klingbeil während des Mittagessens wörtlich sagte, ist nicht bekannt. Journalisten waren nicht zugelassen. Allerdings hatte der SPD-Chef bereits nach der Landung in Washington seine Botschaft an alle milliardenschweren Fonds, Pensionskassen und Banken öffentlich gemacht: „Die Hauptbotschaft ist, wir tun jetzt alles, um Wachstum zurückzubekommen in Deutschland“, sagte er.

Dafür habe die Bundesregierung in fünf Monaten sehr weitreichende Entscheidungen getroffen – vor allem Sonderschulden und Steuerreform. Deutschland werde international wieder als attraktiver Standort für private Investitionen gesehen, frohlockte Klingbeil bereits. Er sprach von einem „window of opportunity“, das man nutzen wolle.

Wer sich in Washington umhörte, konnte unterschiedliche Ansichten zu Klingbeils Optimismus vernehmen. Den einen fielen wenig Gründe ein, warum ein Investor nach Deutschland gehen sollte. Es habe sich bislang nicht genug geändert. Vor allem das Problem der Produktivitätsschwäche sei ungelöst, das Potenzialwachstum viel zu gering.

Die Minuspunkte sind viel diskutiert, aber weiterhin vorhanden: Das Dickicht an Vorschriften und Regeln ist nicht gelichtet. Das seit Monaten angekündigte Planungsbeschleunigungsgesetz hängt fest. An die Reformen der sozialen Sicherungssysteme – von Gesundheit, über Pflege bis Rente – wagt sich die Koalition höchstens halbherzig heran. Dabei ist seit Langem bekannt, wie schnell die Alterung der Gesellschaft voranschreitet. Ohne Reformen wird Arbeit noch teurer, weil die Abgabenlast steigt.

Sehr viele Anfragen von Investoren

Von anderen wurde der Beitrag der Bundesregierung durchaus positiv gewertet. Das Interesse bei seinen Kunden an Investitionen in Deutschland sei da, sagte ein Bankvorstand. Potenzielle Geldgeber seien neugierig, ob und wie sie an der angekündigten Modernisierung Deutschlands mitverdienen könnten. Wobei er einschränkte: Im Frühsommer habe es dazu sehr viele Anfragen gegeben, zuletzt nicht mehr ganz so viele. Streitereien zwischen den Koalitionspartnern seien sicherlich nicht hilfreich für das Vertrauen der Investoren in die Veränderungsbereitschaft des Landes.

Auch die aktuelle Prognose des Internationalen Währungsfonds dürfte da nicht hilfreich sein. Für 2026 halten die Ökonomen ein Wachstum von gerade einmal 0,9 Prozent für möglich. Zum Vergleich: Als Lindner in New York vor Investoren sprach, lag die Prognose für das Folgejahr, also für 2025, kaum niedriger: nämlich bei 0,8 Prozent. Damals war Deutschland weit hinten in der Wachstumstabelle der Industrieländer, jetzt ist es dies auch. Der Regierungswechsel und der neue Umgang mit Schulden zeigen sich in der nackten Zahl der Wachstumserwartung des IWF also nicht.

Am Ende könnte Klingbeil und der schwarz-roten Regierung ein Thema zugutekommen, das während der Jahrestagung viel unter dem Schlagwort Unsicherheit diskutiert wurde. Die Zollstreitigkeiten zwischen den Vereinigten Staaten und China, die Drohung mit Sanktionen und Gegensanktionen, die weltweit immer weiter steigende Verschuldung sorgen dafür, dass die großen Kapitalsammelstellen ihre Risiken breiter streuen. Wer nicht mehr nur im Dollar-Raum engagiert sein will, muss sich mit Europa zumindest einmal beschäftigen.

In den ersten sieben Monaten investierten ausländische Unternehmen tatsächlich so viel in Deutschland wie lange nicht, stellte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Ende September auf Basis von Bundesbank-Zahlen fest. Von Januar bis Juli 2025 seien 334 Milliarden Euro Kapital nach Deutschland geflossen – mehr als das Zweieinhalbfache des Durchschnitts der vergangenen zehn Jahre.

Die Direktinvestitionen erhöhten sich von 48 Milliarden Euro in den ersten sieben Monaten 2024 auf 68 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum 2025. Die neuen Zahlen könnten ein erstes Anzeichen für einen Umschwung bei der Wirtschaftsstimmung sein, mutmaßten die IW-Experten. Womöglich hätten die Investoren gerade aber auch nur keine bessere Alternative.

Lars Klingbeil dürfte es am Ende egal sein, warum mehr Kapital für das dringend benötigte Wachstum nach Deutschland fließt – solange es nur kommt. Womöglich hatte sogar Christian Lindners Auftritt vor einem Jahr in New York einen Effekt auf das Investitions-Wachstum. Ob Klingbeil die Fondsmanager im Waldorf Astoria überzeugt hat, war zunächst nicht zu erfahren.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.

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