Kummer ist man in Deutschland schon lange gewohnt, wenn es um große Vorhaben der Verkehrs-Infrastruktur geht. Das Chaosprojekt Stuttgart 21 ist das prominenteste Beispiel für horrende Kostensteigerungen und Verzögerungen.

Besonders auffällig häufen sich die Rückschläge bei Projekten für neue Schienenstrecken und Fernstraßen derzeit allerdings im Norden: Der Bau der A26 Ost wurde nach Klagen der Umweltverbände BUND und Nabu vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einstweilen gestoppt. Bei der Verlängerung der „Küstenautobahn“ A20 ist völlig offen, wann mit dem Bau eines neuen Elbtunnels zwischen Glückstadt in Schleswig-Holstein und Drochtersen in Niedersachsen begonnen werden kann. Im Jahr 2026 indes verfällt der Planfeststellungsbeschluss für den Bau des Tunnels auf niedersächsischer Seite. Das Baurecht müsste dann in einem womöglich jahrelangen Verfahren neu erlangt werden. In Schleswig-Holstein wiederum sind noch nicht einmal alle nötigen Planfeststellungsbeschlüsse erteilt.

Auch bei den Schienenwegen sieht es nicht besser aus. Die deutsche Inlandsanbindung für den Fehmarnbelttunnel verzögert sich absehbar um Jahre. Eine geplante neue Schnellbahntrasse zwischen Hamburg und Hannover, auf deren Bau die Deutsche Bahn dringt, wird von Kommunal- und Landespolitikern sowie auch von Bürgerinitiativen in Niedersachsen strikt abgelehnt – und auch Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD), durch dessen Wahlkreis eine solche, zweite Hochleistungstrasse zwischen Hamburg und Hannover verlaufen würde, unterstützt den Widerstand dagegen. Beim Verbindungsbahn-Entlastungstunnel der Deutschen Bahn durch das Zentrum von Hamburg wiederum steht nicht fest, ob und wann der Bund dieses Projekt finanziert. Dringend gebraucht wird solch ein Tunnel, um den Hamburger Hauptbahnhof zu entlasten.

All das hat Folgen für die Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems weit über Norddeutschland hinaus. „Wo man hinschaut: Zaudern, Verzögerungen und zu wenig Geld. Die Bundespolitik erweckt gern den Eindruck, sie würde an vielen Schienenausbauprojekten gleichzeitig arbeiten – tatsächlich passiert fast nichts“, sagt Peter Westenberger, Geschäftsführer des Verbandes Die Güterbahnen, der die Interessen der privatwirtschaftlichen Güterbahnbetreiber vertritt. „In ganz Deutschland wurden im vergangenen Jahr gerade einmal 44 Kilometer neue Schienenstrecke in Betrieb genommen oder elektrifiziert, in den letzten fünf Jahren insgesamt nur magere 427,8 Kilometer. Der wachsende Verkehr muss sich auf eine Infrastruktur zwängen, die nicht mitwächst – und zugleich rapide altert.“

Der Verband kritisiert auch die bundeseigene Deutsche Bahn dafür, dass sie  „keinen echten Ausbaukurs“ verfolge: „Selbst die wenigen Projekte, die tatsächlich gerade umgesetzt werden – von der sogenannten Wunderlinie an der holländischen Grenze über die S4 und die Tunnelanbindung zwischen Hamburg und Fehmarn bis hin zur Verbindung an die Ostsee nach Stettin – verzögern und verteuern sich notorisch“, sagt Westenberger. „Besonders gravierend ist die Lage auf der wichtigsten Güterverkehrsachse Norddeutschlands zwischen dem Hamburger Hafen und Hannover: Trotz geplanter Vollsperrung 2029 weigert sich die DB, die seit vielen Jahren vorgedachten Kapazitätserweiterungen dort mit umzusetzen.“

Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, sagt: „Sonntags stehen viele Politiker hinter den Neu- und Ausbauprojekten in Norddeutschland. Im Alltag erklärt man dann allerdings nicht die Notwendigkeiten und versucht auch nicht, Ängste von Bürgern durch Argumente zu entkräften. Die Bürger verstehen oft nicht, welche Vorteile neue Strecken bieten können.“ Dieses Informationsdefizit, sagt Naumann, sehe man zum Beispiel auch beim regionalen Widerstand in der Lüneburger Heide gegen die von der Deutschen Bahn gewünschte neue Schnellbahntrasse. Die Anwohner „glauben nicht, dass bei einer neuen Schnellfahrstrecke Hamburg–Hannover mit ein oder zwei Zwischenhalten für schnelle Regionalverkehre auch Vorteile für die Region entstehen. Ein Positiv-Beispiel wie etwa Merklingen zwischen Stuttgart und Ulm wird einfach ignoriert.“

Der Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete und Verkehrspolitiker Christoph Ploß sagt, der Bund werde für mehr Bewegung sorgen: „Seit Jahren werden essenzielle Projekte wie die Hafenpassage A26 Ost, die Fehmarnbeltquerung oder der Bau der neuen Köhlbrandbrücke verschleppt. Das ist peinlich für ein Land wie Deutschland“, sagt Ploß, der auch maritimer Koordinator des Bundes ist. „Deshalb werden wir noch in diesem Jahr das Planungsrecht reformieren, denn sonst wird unser Wohlstand immer stärker gefährdet, und der Hamburger Wirtschaft droht die Intensivstation.“ Deutschland brauche in den kommenden Jahren  „endlich eine echte Beschleunigung beim Planen und Bauen. Andere Städte und Länder zeigen, dass es geht. Das wäre auch bei uns ein echter Paradigmenwechsel, und die schwarz-rote Koalition treibt ihn jetzt voran.“

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten auch über den Bau von Verkehrswegen.

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