Mit seiner Fundamentalkritik am Aufbau der Wasserstoffwirtschaft sorgte der Bundesrechnungshof vor wenigen Tagen für Verunsicherung bei Energiewende-Befürwortern. Der Energieträger sei als Ersatz für Erdgas, Öl und Kohle „absehbar nicht wettbewerbsfähig“ – und zwar weder im Import noch in der Eigenproduktion.

Die in der Nationalen Wasserstoffstrategie niedergelegten Ziele stellten ein „erhebliches Risiko“ für den „bereits aus den Fugen geratenen Bundeshaushalt dar“, warnte Rechnungshof-Präsident Kay Scheller. Es drohe „Dauersubventionierung“. Dabei sei sogar „unsicher, ob die gewünschte positive Klimawirkung eintritt“. 

Die Rechnungsprüfer hätten ihr Urteil kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt sprechen können: Der Umweltministerrat der Europäischen Union verkündete wenig später das hoch ambitionierte Ziel, die Emissionen des Kontinents bis 2040 um 85 Prozent zu senken: Ohne klimaneutrale Brennstoffe ein illusorisches Unterfangen. Doch die deutschen Kontrolleure ließen den Wasserstoff-Weg in die Klimaneutralität schon vorab wie einen Irrweg aussehen.

Ökostrom-Verbände reagierten mit Kritik am Rechnungshof. „Eine heimische grüne Wasserstoffwirtschaft schafft Wachstumsperspektiven für deutsche Unternehmen, Zehntausende neue Arbeitsplätze entlang der gesamten Wertschöpfungskette und verringert gleichzeitig die Abhängigkeit von Energieimporten“, verteidigte die Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE) Ursula Heinen-Esser den Energieträger. Als große, steuerbare Stromverbraucher würden die Elektrolyseure zur Wasserstoffherstellung auch für die dringend benötigte „Flexibilität“ im Stromnetz sorgen.

Wasserstoff aus dem Ausland

Um diese segensreiche Wirkung zu entfalten, müssten die Elektrolyse-Anlagen freilich in Deutschland stehen. Und das tun sie selten: Einige der größten Projekte zur Wasserstoffnutzung beziehen den Brennstoff aus dem Ausland.

Die Stahl-Holding-Saar (SHS) etwa will damit klimafreundlichen, grünen Stahl produzieren. Kern des Projekts Power4Steel ist neben dem Bau von Lichtbogenöfen zur Schrottschmelze eine „Direktreduktionsanlage“, die keine Kokskohle braucht, sondern Wasserstoff. Geplant sind Investitionen über 4,6 Milliarden Euro, Bund und Land schießen 2,6 Milliarden Euro Steuergeld dazu. Es sei „das größte Projekt in der aktuellen Wasserstoffgeschichte der Bundesregierung“, preist das Wirtschaftsministerium das Vorhaben.

Importiert wird der Brennstoff allerdings aus Frankreich. In dem nur wenige Kilometer hinter der Grenze liegenden Ort Carling baut das Pariser Unternehmen Verso Energy extra eine große Elektrolyse-Anlage mit 300 Megawatt (MW) Leistung und investiert 450 Millionen Euro.

Pro Jahr sollen von dort 6000 Tonnen Wasserstoff über die Grenze zum Stahlwerk Dillingen transportiert werden. Der Anfang September geschlossene Importvertrag sei „ein Meilenstein für die Zukunft der saarländischen Stahlindustrie und unserer Region“, jubelte Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD).

Es hätte allerdings auch ein Meilenstein für die deutsche Wasserstoff-Industrie werden können – wenn die 300-Megawatt-Elektrolyseure auf deutscher Seite errichtet würden. Deutschlands Wasserstoffstrategie sieht schließlich den Aufbau von 10.000 Megawatt Elektrolyse-Leistung im eigenen Land bis 2030 vor.

Doch abgesehen von Planungen für zwei 300-MW-Projekte von RWE in Lingen und EWE in Emden ist noch nichts zu sehen. Fünf Jahre vor dem offiziellen Zieldatum 2030 sind erst 1,7 Prozent der geplanten Elektrolysekapazitäten am Netz. Die nötige Verfünfzigfachung der deutschen Wasserstoffproduktion in dieser Zeit war ohnehin illusorisch. Sie wird es jedoch erst recht, wenn die deutschen Fördermilliarden indirekt auch noch Elektrolyseure im Ausland finanzieren.

Warum der französische Wasserstofflieferant die Ausschreibung gewann, ist nicht so offensichtlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Grundsätzlich ist Strom in Frankreich billiger als in Deutschland. Die Wasserstoff-Anlage von Verso in Carling soll mit einer 400.000-Volt-Leitung ans Umspannwerk in Saint Avold angeschlossen werden, das „im Normalbetrieb den Großteil seiner Energie aus dem Kernkraftwerk Cattenom bezieht“, wie die Umweltgruppe „The Shift Project“ feststellt. Insgesamt enthält der französische Strommix 65 Prozent Kernenergie.

Wird der grüne Wasserstoff für die saarländische Stahlindustrie etwa mit französischem Atomstrom produziert? Nach der Farbenlehre des Wasserstoffs bekommt der Energieträger nur dann das Etikett „grün“, wenn die Produktionsanlage mit Ökostrom betrieben wurde. Um „roten“ Wasserstoff handelt es sich, wenn Atomstrom zum Einsatz kam. Beides ist erlaubt: Deutschland und Frankreich hatten den sogenannten Taxonomie-Streit um die Frage, ob klimafreundlicher Atomstrom nun öko ist oder nicht, irgendwann beigelegt.

Laut EU gilt der Strommix eines Landes jetzt als grün, wenn er weniger als 18 Gramm CO2-Äquivalente pro Megajoule enthält. Das ist in Frankreich der Fall – dank der Atomenergie. Französische Elektrolyseure, die einfach den landesüblichen Strommix verwenden, können ihren Wasserstoff als kohlenstoffarm vermarkten.

Der französische Elektrolyseur für Saarstahl hatte damit einen klaren Kostenvorteil gegenüber hiesigen Wettbewerbern: Weil der deutsche Strommix nach dem Atomausstieg verhältnismäßig schmutzig ist, verlangen die EU-Regularien, dass grüner Wasserstoff hier nicht mit Netzstrom hergestellt werden darf, sondern nur mit eigens dafür gebauten Wind- und Solaranlagen.

Doch Antoine Huard, Generaldirektor von Verso Energy hat von seinem Standortvorteil nicht einmal Gebrauch gemacht: Die Elektrizität für den Saarstahl-Elektrolyseur werde über direkte Lieferverträge mit Wind- und Solarparks in ganz Frankreich aufgekauft oder selbst erzeugt, betont er auf Nachfrage. Es handele sich also nicht um Brennstoff aus „roter“ Nuklear-Elektrolyse, sondern um genuin als „grün“ zertifizierten Wasserstoff.

Dass Verso Energy die Ausschreibung trotzdem gewann, überrascht. Ökostrom ist in Frankreich knapper als in Deutschland, und es geht um riesige Mengen: Nach Berechnungen der französischen Grünen benötigt der Verso-Elektrolyseur mehr als drei Milliarden Kilowattstunden im Jahr, was dem Verbrauch von mehr als 1,3 Millionen Menschen entspricht.

Der Fall zeigt: Frankreich bleibt für Wasserstoff-Produzenten der attraktivere Standort. Die saarländische Landesregierung wirbt zwar damit, dass bis 2032 „in der Region“ Elektrolyseure mit einer Leistung von 925 MW stehen könnten – allerdings nur ein Siebtel davon auf der deutschen Seite der Grenze.

Daniel Wetzel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Energiewirtschaft und Klimapolitik. Er wurde 2007 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit dem Robert-Mayer-Preis ausgezeichnet und vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität Köln 2009 mit dem Theodor-Wessels-Preis.

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