Die Bundeswehr hat einige Tausend schwere und leichte Transportfahrzeuge, die Zahl der in Deutschland zugelassenen Lkw hingegen liegt bei mehr als 3,8 Millionen. Ein Teil dieses riesigen privatwirtschaftlichen Potenzials muss für die Armee erschlossen werden, wenn Deutschland verteidigungsfähig werden und seine Rolle als logistische Drehscheibe für die Nato erfüllen soll.

„Die Bundeswehr kann und wird sicher nicht wieder einen Bestand an Fahrzeugen wie in der Zeit des Kalten Krieges aufbauen. Das muss sie auch nicht, wenn sie sich gut mit anderen staatlichen Organisationen und mit der Wirtschaft vernetzt“, sagt Michael Rogasch, Geschäftsführer beim Beratungsunternehmen Bw Consultung, das zur Bundeswehr gehört.

Das Zentrum Nachhaltige Transformation an der Quadriga Hochschule Berlin hat gemeinsam mit Bw Consulting und dem zum Volkswagen-Konzern gehörenden Beratungsunternehmen MHP Management- und IT-Beratung eine Studie vorgelegt, die zentrale Aufgabenstellungen und Herausforderungen bei dieser komplexen Vernetzung beschreibt. „Die Bedrohungslage erfordert eine neue, intensivere Kooperation aller gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche, weit über die Bundeswehr und die Privatwirtschaft hinaus“, heißt es in der Studie. Es gehe darum, „bruchfreie Prozesse und den wirksamen Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu erreichen“.

Der „Operationsplan Deutschland“ bildet die Grundlage für die administrative Diskussion darüber, wie sich Deutschland als effektive logistische Drehscheibe aufstellen kann und muss, wenn im Verteidigungsfall innerhalb weniger Wochen bis zu 800.000 Nato-Soldaten nach Osteuropa gebracht werden müssen – und zugleich flüchtende Menschen, verletzte und gefallene Soldaten von dort in Richtung Westen gebracht werden.

Ein wesentlicher Nachteil: Der von der Bundeswehr im Frühjahr 2024 vorgelegte, mehr als 1000 Seiten umfassende „Operationsplan Deutschland“ ist weitgehend geheim und kann damit nicht für öffentliche gesellschaftliche Diskussionen und Lernprozesse herangezogen werden. Im Rahmen des Operationsplans koordinieren öffentliche Verwaltungen, Hilfs- und Rettungsdienste und auch die Wirtschaft mit der Bundeswehr ihr Zusammenwirken im Verteidigungsfall.

Die Autoren der Studie schlagen unter anderem vor, eine „Digitale Logistische Drehscheibe Deutschland“ zu entwickeln: „Im Mittelpunkt dieses Systems steht ein digitaler Zwilling der privatwirtschaftlichen Logistik. Er liefert – auf Basis der Daten, die Unternehmen heute bereits nutzen – eine Übersicht in Echtzeit, die alle verfügbaren Ressourcen und Dienstleistungen privatwirtschaftlicher Anbieter transparent macht und neben einem Lagebild auch die konkrete Steuerung einzelner Aktivitäten ermöglicht“, heißt es im Text. „Ein solcher digitaler Zwilling schafft auch die erforderliche Transparenz und die rechtliche Verbindlichkeit für die privatwirtschaftlich-militärische Zusammenarbeit.“

Als ein Beispiel für eine bereits laufende Kooperation nennen die Autoren den Auftrag der Bundeswehr an den Rüstungskonzern Rheinmetall im Umfang von 263 Millionen Euro für den Aufbau sogenannter „Convoy Support Center“. Diese Haltepunkte werden als militärische Rast-, Versorgungs- und Reparaturstationen entlang von Marschrouten aufgebaut.

Ein großes logistisches Potenzial sehen die Autoren der Studie auch darin, dass die Bundeswehr und die Nato-Verbündeten Logistik- und Fabrikanlagen nutzen könnten. Bei Fragen der Logistik und Versorgung gibt es allerdings gravierende Unterschiede zwischen der Wirtschaft und den Streitkräften: Unternehmen lassen sich ihr Material in der Regel zeitgenau – just in time – in die Fabrik liefern, sie haben ihre Lagerhaltung seit Jahrzehnten minimiert, um Geld zu sparen.

Die Armee hingegen braucht Redundanz, Vorräte und logistische Puffer. „Effektivität geht hier klar vor Effizienz“, sagt Henning Schulze, Partner bei MHP. Und Michael Rogasch sagt: „Die Bundeswehr weiß ebenso wie die Wirtschaft, dass eine engere Kooperation auf vielen Ebenen zum gegenseitigen Nutzen wäre.“ Wichtig sei es, schnell mehr Transparenz darüber herzustellen, „was die Wirtschaft hat, das die Bundeswehr brauchen kann“.

Erfahrungen aus Finnland

In der 81-seitigen Studie listen die Autoren unter anderem auch besondere Stärken bestimmter europäischer Nato-Partnerländer auf, die ihre Verteidigungsfähigkeit schon seit Jahren mit bestimmten Mechanismen stärken: Die Niederlande etwa verfolgten einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz „mit hoher Beteiligung privater Betreiber kritischer Infrastrukturen, mit koordinierter Krisenführung über den Nationalen Koordinator für Terrorismusbekämpfung und Sicherheit und mit regelmäßigen Lage- und Krisenübungen mit der Privatwirtschaft“.

In Großbritannien gebe es unter anderem „ausgeprägte öffentlich-private Partnerschaftsmodelle“, etwa die privatwirtschaftlich organisierte Luftbetankung von Militärflugzeugen. Finnland betreibe ein „Gesetzlich fundiertes System der Gesamtverteidigung mit verbindlichen Vorsorgevereinbarungen“, in Schweden wiederum gebe es eine „klare Einbindung der Wirtschaft in Planung, Stabsrahmenübungen und regionale Krisenstäbe“.

Abgeleitet aus solchen Erfahrungen europäischer Nachbarländer, empfehlen die Autoren der Studie für Deutschland unter anderem den „Ausbau eines operativen Nationalen Sicherheitsrats mit Lagezentrum im Kanzleramt und vertikaler Länderanbindung, die Einführung sektoraler Bereitschaftsvereinbarungen mit privatwirtschaftlichen Leistungsträgern, die Entwicklung einer Plattform zur Koppelung militärischer Bedarfe mit privatwirtschaftlichen Kapazitäten und Lagebildern und den Aufbau eines institutionellen Übungsrahmens für privatwirtschaftlich-militärische Resilienztests und Ressourcenmobilisierung“.

Was all das in den kommenden Jahren kosten würde, lasse sich heute noch nicht beziffern, sagt Michael Rogasch. Klar sei umgekehrt aber, dass viel Steuergeld gespart werden kann, wenn die Bundeswehr Wissen, Infrastrukturen und Anlagen der Wirtschaft mit nutze, die es längst gebe. „Wichtig ist, dass wir jetzt anfangen, auf dieser Basis Erfolgsmodelle zu schaffen. Das muss man sich vorstellen wie eine Expedition, wie eine Art ,Christoph-Kolumbus-Prozess‘.“

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet unter anderem auch über die Rüstungswirtschaft und über die Bundeswehr.

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