Als Michael von Reth den Hörer auflegt, spürt er, wie ihm die Luft wegbleibt. Er verlässt sein Büro, geht hinaus auf die Straße, läuft ein paar Schritte, um den Kopf freizubekommen. Gerade hat er einer Frau erklären müssen, dass die Urne ihres Vaters verschwunden ist – verloren irgendwo im System der Post. Von Reth hatte geglaubt, mit einer Bestatterin zu sprechen.

Doch am anderen Ende der Leitung war die Tochter des Verstorbenen. „Das Gespräch ist dann entglitten“, sagt er. „Die Tochter war sehr emotional. Am Ende musste ich fast mit ihr weinen.“

Der 43-Jährige arbeitet bei einer Spezialeinheit der Posttochter DHL Paket in Monheim, die sich um besonders heikle Fälle kümmert: verlorene Sendungen, Nachforschungen, Streit um Entschädigungen. 14 Menschen sitzen dort in einem unscheinbaren Bürogebäude, ausgestattet mit Datenbanken, Telefonen und viel Geduld. Intern werden sie die „Postdetektive“ genannt. Wie diese Einheit arbeitet, war bislang kaum bekannt. Fotos sind an diesem Ort nicht erlaubt. Doch für WELT AM SONNTAG hat die Post erstmals ihre Türen geöffnet.

Die Monheimer greifen dann ein, wenn die üblichen Beschwerdeverfahren scheitern. Typisch ist dieser Ablauf: Ein Kunde wartet vergeblich auf eine Sendung, kommt im Callcenter nicht weiter, fühlt sich abgespeist – und schreibt schließlich eine wütende E-Mail an den Vorstand. Oder aber die Bundesnetzagentur, die Beschwerden sammelt und den Markt überwacht, leitet einen besonders kniffligen Fall weiter.

Jährlich landen so zwischen 3000 und 4000 Beschwerden auf den Schreibtischen der Detektive. Gemessen an den rund 1,8 Milliarden Paketen, die DHL jährlich befördert, ist das ein winziger Anteil – doch jeder einzelne Fall kann eskalieren. Gerade im Logistikgeschäft wiegt jeder Verlust schwer. Denn Kunden übergeben der Post nicht nur Waren, sondern oft sehr persönliche Dinge: die Asche eines Verstorbenen, Erbstücke, wichtige Dokumente. Geht etwas verloren, ist nicht nur das Paket verschwunden – sondern auch ein Stück Vertrauen.

Die Postdetektive in Monheim sind hierzulande einzigartig. Zwar haben auch andere Dienste wie Hermes, UPS oder DPD Beschwerde- und Schadensabteilungen. Doch die schwierigsten Fälle landen dort meist bei Juristen – nicht bei einem Team, das Fälle von Anfang bis Ende begleitet und sogar direkten Zugriff auf die internen Trackingsysteme der Zusteller hat. Hintergrund ist der wachsende Druck auf die Paketdienste. Die Bundesnetzagentur verpflichtet sie seit einigen Jahren dazu, systematische Verfahren für Beschwerden und Nachforschungen vorzuhalten. Seit 2019 gilt sogar die Pflicht, bei ungelösten Fällen ein für den Kunden kostenloses Schlichtungsverfahren einzuleiten.

Die DHL-Detektive erleben heftige Reaktionen

In seinem Büro öffnet von Reth einen Ordner auf seinem Bildschirm. Darin sammelt er die Briefe und Mails, die in den vergangenen Monaten an den Vorstand von DHL geschrieben wurden – alles Fälle, die später bei ihm und seinem Team gelandet sind. Manche Seiten klickt er schnell weiter, andere liest er nachdenklich. „In den vergangenen Jahren ist der Schreibstil aggressiver geworden“, sagt er. „Beschimpfungen nehmen zu, und bei der Wortwahl gibt es keine Grenzen mehr.“

Im Team sprechen sie regelmäßig über besonders schwierige Fälle, auch um im Umgang mit aufgebrachten Kunden sicherer zu werden. „Wir haben am Anfang des Gesprächs nur wenige Sekunden Zeit, um herauszufinden, wie der Kunde sich gerade fühlt“, sagt von Reth. Ganz entscheidend sei es, niemals Unsicherheit zu zeigen. „Dann zerreißen dich die Kunden, weil sie meinen, alles sagen zu können.“ Eine empfohlene Formulierung laute etwa: „Schreiben Sie mir bitte in einem sachlichen Ton.“ So reagieren die Detektive auf Mails, in denen Kunden sich im Ton vergriffen haben.

Die Mitarbeiter in Monheim kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Viele sind aus der Zustellung oder den Postfilialen zu den Detektiven gewechselt, andere sind Quereinsteiger, einer sogar aus der Altenpflege. Im Coaching zeige sich schnell, wer für den Job passt, sagt von Reth, der seine Karriere einst in einem Callcenter der Telekom begonnen hat. „Wer hier arbeitet, braucht viel Spürsinn und Empathie“, sagt er über die Spezialeinheit der Post.

Die Belastung wächst: Im vergangenen Jahr gingen bei der Bundesnetzagentur rund 44.000 Beschwerdebriefe ein – sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Zwei Drittel betrafen Zustellmängel: Pakete, die achtlos an unsicheren Orten landeten, Benachrichtigungen, die im Briefkasten fehlten, oder Sendungen, die schlicht gar nicht ankamen. Viele dieser Pannen sind dem enormen Zeitdruck geschuldet, unter dem die Zusteller arbeiten.

Von Reth und seine Kollegen in Monheim versuchen mit ihrer Arbeit also auch, die Schwächen in einem System aufzufangen, das längst an seiner Belastungsgrenze operiert. Nicht immer gelingt eine Lösung. Manches Paket bleibt trotz aller Bemühungen verschollen. Doch manchmal geschieht auch ein kleines Wunder – so wie bei Gabriele Gillette, einer erfahrenen Mitarbeiterin der Monheimer Spezialeinheit.

Sie erinnert sich an eine Kundin, die Deutschland verlassen hatte, um im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Umziehen sollte auch eine Forschungsarbeit, die sie über mehrere Jahre handschriftlich verfasst hatte. Weil sie das Werk sicher wissen wollte, gab sie es als Paket auf. Doch in ihrem neuen Heimatland kam es nie an. „Die Frau hat geweint und war verzweifelt“, sagt Gillette. Immer wieder habe die Auswanderin angerufen, doch die Spur der Sendung blieb verschwunden. Wochen vergingen, dann Monate, schließlich war ein ganzes Jahr ohne Ergebnis verstrichen.

Postdetektive haben keine Zeitvorgaben

Gillette aber suchte weiter. Immer wieder schaute sie in die Datenbank mit unzustellbaren Sendungen. Eines Tages stieß sie auf eine Beschreibung, die passend schien: handschriftliche Manuskripte, umfangreich. Tatsächlich war das Paket auf dem Weg ins Ausland fehlgeleitet worden – statt nach Südkorea gelangte es nach Südafrika. Dort hing es monatelang fest, wurde schließlich zurückgeschickt und in Deutschland eingelagert. „Als ich die Kundin anrief, konnte sie ihr Glück kaum fassen“, sagt Gillette. Für sie selbst war es der Höhepunkt ihrer Arbeit: ein Fall, in dem Geduld und Hartnäckigkeit belohnt wurden.

Möglich sind solche Einsätze auch deshalb, weil es für die Detektive keine Zeitvorgabe gibt, bis wann ein Fall gelöst sein muss. Eine Erfolgsquote existiere nicht, sagt von Reth. Wobei Erfolg auch nicht immer bedeutet, dass ein Paket wieder auftaucht. Da, wo es unauffindbar bleibt, kann auch Geld eine Lösung sein. Bis zu 150 Euro dürfen die Detektive eigenständig als Entschädigung gewähren. Mitunter, so schildern es die Postermittler, ist auch „grobes Fehlverhalten“ der Zusteller schuld daran, dass ein Paket verschwindet. Etwa, wenn ein Bote nachweislich Sendungen unterschlägt oder bewusst falsch scannt. In solchen Fällen kann die Post den Mitarbeiter in Regress nehmen. Das geschehe allerdings selten, sagt von Reth.

Bei ihrer Arbeit haben die Postdetektive Zugriff auf sämtliche Daten der Zustellarbeit der Post. Auch in den Ablauf der Paketzustellung vom Paketzentrum bis zur Zustellbasis können sie eingreifen und etwa ein einzelnes Paket aus einem Container herausziehen lassen. Der Einfluss reicht bis an die Haustür. Von Reth berichtet von einem Kunden, der sich kürzlich beschwerte, dass sein Paketzusteller niemals klingele. Der Mitarbeiter widersprach. Schließlich stellte sich heraus: Der Kunde war schwerhörig. Seither erscheint auf dem Handscanner des Zustellers die Nachricht: „Bitte lange und mehrmals klingeln.“

Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Post und Kunde nicht einig werden. Vor allem bei Beschädigungen passiert das relativ häufig. „Die Paketdienste lehnen eine Regulierung bei Schäden oft einfach ab“, sagt Iwona Husemann, Referentin Verbraucherrecht bei der Verbraucherzentrale NRW. In solchen Fällen raten Verbraucherschützer dazu, das kostenlose Schlichtungsverfahren der Bundesnetzagentur zu nutzen.

Im Jahr 2024 führte das immerhin bei einem Drittel der zulässigen Fälle zum Erfolg. „Kunden wollen nicht mit Textbausteinen und Standardantworten abgespeist werden“, sagt Husemann. „Bei Beschwerden stoßen sie schnell an Grenzen, weil sich niemand wirklich mit ihnen beschäftigen möchte.“ Trotz steigender Preise im Paketversand sei das Qualitätsmanagement in der Branche keineswegs besser geworden.

Auch deshalb ist die Arbeit der Postdetektive so wichtig. Für die Post ist jeder Fall ein Lehrbeispiel dafür, wie sich die Zustellung verbessern lässt. Für Michael von Reth und seine Kollegen wiederum ist jeder gelöste Fall, jede wieder aufgetauchte Sendung ein kleiner Sieg – gegen die Anonymität im Massengeschäft der Logistik. In die Verlegenheit, ausgerechnet nach einer Urne zu fahnden, wird der Ermittler allerdings wohl nicht mehr kommen: Seit dem 1. Oktober ist der Urnenversand über das DHL-Paketnetz endgültig eingestellt.

Birger Nicolai ist Wirtschaftskorrespondent in Hamburg und schreibt über Logistik-Themen.

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