Seit dieser Woche führt Sebastian Jürgens, 62, als neuer Präsident den Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) mit Sitz in Hamburg und Berlin. Er sieht große Herausforderungen für die Häfen, speziell bei der Erneuerung der Infrastruktur. Der ZDS repräsentiert die Interessen von rund 140 Unternehmen. Jürgens ist im Hauptberuf Geschäftsführer der Lübecker Hafen-Gesellschaft.

WELT AM SONNTAG: Herr Jürgens, die Hafenwirtschaft in Deutschland fordert seit vielen Jahren eine deutliche Aufstockung der Bundesförderung für die Häfen – von derzeit 38 Millionen Euro auf mindestens 400 Millionen Euro im Jahr. Was macht Sie zuversichtlich, dass Sie als neuer ZDS-Präsident mit dieser Forderung erfolgreich sein könnten? 

Sebastian Jürgens: Die deutschen Seehäfen an Nord- und Ostsee eint ihre Systemrelevanz für Wirtschaft, Sicherheit und Energiewende. Sie sind die Herzkammern des globalen Handels. Über die deutschen Seehäfen läuft der Großteil unseres Außenhandels, sie sichern Millionen Arbeitsplätze und sind Grundlage für den Wohlstand unseres Landes. Entsprechend ist es nicht übertrieben, zu behaupten: Die Zukunft des Landes wird auch in den Seehäfen gestaltet. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bietet das Sondervermögen Infrastruktur des Bundes mit seinen 500 Milliarden Euro eine einmalige Chance. Davon benötigt die öffentliche Hafeninfrastruktur etwa 15 Milliarden Euro, um den über Jahrzehnte aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen – das sind rund drei Prozent des Sondervermögens. Damit wir nie wieder in eine solche Situation kommen, brauchen wir außerdem eine jährliche Co-Finanzierung des Bundes für die deutschen Seehäfen in Höhe von 500 Millionen Euro.

WAMS: Sie stocken Ihre Forderung von 400 auf 500 Millionen Euro auf?

Jürgens: Ja, weil wir die Kostensteigerungen der vergangenen Jahre für den Erhalt der Infrastruktur in den Seehäfen in die Summe realistisch einkalkulieren müssen. Wir brauchen leistungsfähige, starke Seehäfen für den Güterumschlag, für die Energieversorgung im Sinne eines besseren Klimaschutzes – und für die Realisierung der „Zeitenwende“, also für unsere Sicherheit und Verteidigung. Das ist nicht allein Länderzuständigkeit, sondern dezidiert auch Aufgabe des Bundes. Wenn auf einer Autobahn eine Brücke zusammenbricht und der Verkehr auf einer Kernautobahn wie der A1 oder A7 nicht mehr funktioniert, kann sich der Bund ja auch nicht hinstellen und sagen, wir warten mal ab, bis irgendein Bundesland etwas unternimmt. 

WAMS: Droht das Sondervermögen für die Infrastruktur aus Sicht des ZDS zweckentfremdet zu werden für andere Bedarfe des Bundes? 

Jürgens: Jüngst haben der Sachverständigenrat – besser bekannt als die   Wirtschaftsweisen – sowie das Institut der deutschen Wirtschaft nachgewiesen, dass bislang jeder zweite Euro aus dem Sondervermögen zweckentfremdet worden ist. Selbst Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hat darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung die Verwendung des Sondervermögens überdenken müsse. Dem können wir uns als ZDS nur anschließen. Bei dem Sondervermögen ist sehr viel Geld – zu Recht – für die Bahn gedacht. Aber wir benötigen hier dringend größere Flexibilität. Wenn ein Verkehrsträger das Geld nicht verausgaben kann, muss es anderweitig in die Infrastruktur investiert werden. Wir als Häfen haben unsere Investitionsvorhaben priorisiert und sind bereit loszulegen.

WAMS: Drängt bei der Sanierung der Verkehrswege stärker der Schienen- oder der Straßenbereich?

Jürgens: Wenn ich bei meinem Bild von der Herzkammer bleibe: Am Ende ist es egal, welches Gefäß nicht funktioniert und die Blutzufuhr zur Herzkammer nicht genau sicherstellen kann. Es muss alles funktionieren – Schienen, Straßen, Binnenwasserstraßen und Häfen. 

WAMS: Die europäischen Fernverkehrswege sind Prestigeprojekte der EU-Kommission. Doch deren Bau stockt in Deutschland immer wieder, sei es die Anbindung des Fehmarnbelttunnels oder des Brenner-Basistunnels.

Jürgens: Bei den europäischen Achsen hakt es massiv. Da fehlt es einerseits an der Abstimmung, andererseits eben auch an wirklicher Beschleunigung und klarer Planung. Und wenn wir dann endlich mal die Korridore entsprechend bauen oder sanieren wollen, auch die sogenannten Hochleistungskorridore in Deutschland, dann fehlt es oft an leistungsfähigen Umleitungsstrecken. Das müssen wir mit Hochdruck angehen und entsprechende Mittel da hineinbringen. 

WAMS: Die Deutsche Bahn wird für alles gescholten, was nicht läuft. Zuweilen trägt sie dafür aber gar nicht selbst die Verantwortung. Wie kann man die Bahn stärken, vor allem auch, wenn es um den Aus- und Neubau von Strecken geht? 

Jürgens: Als ZDS bringen wir uns seit Langem konstruktiv in die Debatte für eine stärkere Schiene ein, etwa mit Vorschlägen, welche Maßnahmen an welchen Korridoren konkret nötig sind, um Engpässe zu beheben. Schließlich sind die deutschen Seehäfen „Eisenbahnhäfen“. Ein wesentlicher Anteil des Schienengüterverkehrs läuft von oder zu den Häfen. Man darf das nicht nur der Bahn überlassen, die dann oft allein kämpft. Nach langen Diskussionen wie zum Beispiel über eine Neubaustrecke zwischen Hamburg und Hannover muss man mit allen Beteiligten dann auch mal zu einer Lösung kommen und auch in die Umsetzung gehen. Denn die teils jahrzehntelangen Diskussionen sind für die Volkswirtschaft nicht förderlich. 

WAMS: Wie kann die deutsche Wirtschaft, auch gemeinsam mit der Deutschen Bahn und deren Konkurrenten, den Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene steigern?

Jürgens: Im sogenannten Intermodalverkehr, der Verbindung der verschiedenen Verkehrsträger, hat Deutschland schon sehr gute Vorarbeit geleistet. Hier läuft es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ganz gut. Sehr wichtig wäre auch, dass alle Lkw-Trailer künftig kranbar für die Verladung auf die Güterbahn sind. Zudem muss das Trassenpreissystem der Deutschen Bahn für die verladende Wirtschaft attraktiver werden. Im Übrigen schließen wir uns den Forderungen des Kombinierten Verkehrs an Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder und die neue Bahnchefin Evelyn Palla vollständig an. 

WAMS: Sind Ostseehäfen wie Lübeck, Kiel und Rostock, die stark vom Fährverkehr geprägt sind, wirtschaftlich besser aufgestellt als die großen Containerhäfen Hamburg und Bremerhaven? 

Jürgens: Wir dürfen nicht vergessen, welche Transformation die Ostseehäfen zuletzt erlebt haben. Russland ist als wichtiger Handelspartner weggefallen. Gleichzeitig eröffnen sich neue Chancen – insbesondere sehen wir durchgehend positive Entwicklungen mit den nordischen und den baltischen Ländern. Die Handelsströme auf der Ostsee sind für den innereuropäischen Handel von enormer Bedeutung. Außerdem sehen wir Ansätze für Energiepartnerschaften. Die Ostsee ist ein „Meer der Möglichkeiten“. Auf der anderen Seite erleben wir in der Ostsee zunehmend hybride Bedrohungen wie Spionage und Sabotage an kritischer Infrastruktur.

WAMS: Die Ostseehäfen sind durch die vielen Fähr- und Güterverbindungen zwischen den Anrainerstaaten noch europäischer ausgerichtet als die Seehäfen an der Nordsee – sie sind dadurch auch ein Gradmesser für die europäische Integration.

Jürgens: Die Häfen an der Ostsee sind beim Ladungs- und Passagieraufkommen relativ schnell über den Vor-Corona-Stand hinausgekommen. Der innereuropäische Handel wächst solide, und er hat Perspektiven. Dafür spielen die Ostseehäfen eine entscheidende Rolle. Man kann sagen, die Verkehre über die Ostseehäfen sind „Brückenersatzverkehre“, hin zu den nordischen und baltischen Ländern dort, wo es keine „echten“ Brücken gibt, wie etwa am Öresund zwischen Dänemark und Schweden. 

WAMS: Welche Rolle spielen Fährhäfen wie Kiel, Lübeck oder Rostock für eine höhere Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und der Nato – Häfen, die wegen ihrer Fährverbindungen viel mehr Erfahrung beim Fahrzeugtransport haben als etwa der Hamburger Hafen? 

Jürgens: Die Seehäfen sowohl an der Nord- als auch an der Ostsee spielen eine zentrale Rolle für die erfolgreiche Gestaltung der Zeitenwende. Schließlich sind sie zentrale Drehscheiben für schweres Gerät, Material und Nachschub. Mit der Entscheidung des Haushaltsausschusses Ende vergangener Woche, 1,35 Milliarden Euro für den Ausbau und die Modernisierung des Hafens Bremerhaven bereitzustellen, erkennt der Bund diese Rolle an. Das begrüßen wir ausdrücklich, zugleich ist es für die Verteidigungsfähigkeit und Resilienz Deutschlands entscheidend, dass mehrere Hafenstandorte an Nord- und Ostsee in die militärische Planung einbezogen und entsprechend finanziell berücksichtigt werden. Neben der Ertüchtigung von Flächen für militärische Zwecke geht es auch um den Schutz kritischer Infrastruktur – ebenso eine gesamtstaatliche Aufgabe. Denn Häfen sind im Fokus hybrider Bedrohungen: Drohnen, Sabotage und Spionage machen Häfen zu potenziellen Angriffszielen. Wir haben für die Häfen an Nord- und Ostsee einen Investitionsbedarf für die militärisch nutzbare Infrastruktur von etwa drei Milliarden Euro ermittelt.

WAMS: Die Offshore-Windkraft-Industrie hatte vor zehn Jahren einen großen Aufschwung an den deutschen Küsten – doch dann wanderte ein Großteil dieser Branche aus Deutschland wieder ab, als der Windkraft-Ausbau auf See verlangsamt wurde. Die Ampelkoalition im Bund hob die Offshore-Ausbauziele nach 2021 allerdings deutlich an. Sehen Sie die Offshore-Windkraft nach wie vor als einen Wachstumsmotor für die Nord- und Ostseehäfen? 

Jürgens: Wir sehen die Potenziale der Industrie unverändert positiv, das gilt zum Beispiel für die Hafenstandorte Cuxhaven, Emden und Bremerhaven. Es gab in der Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle eine gewisse Überregulierung, die dazu beigetragen hat, dass man hier nicht so richtig vorangekommen ist. Ungeachtet dessen wird die Offshore-Windenergie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, um das deutsche Ziel zu erreichen, bis Ende des Jahrzehnts 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Quellen zu decken. Dabei spielen die Seehäfen eine zentrale Rolle: Sie sind erster Anlaufpunkt für Bau, Betrieb und Wartung von Offshore-Windparks, ein idealer Standort für die Elektrifizierung mit grünem Strom. In den Häfen werden Windkraftbauteile vormontiert und anschließend mit Errichterschiffen auf hohe See transportiert. Zeitgleich fungieren sie als Import-Hubs für Onshore-Komponenten. Dafür braucht es große, schwerlastfähige Flächen, spezielle Suprastruktur und Know-how. Das erfordert erhebliche Investitionen, die ebenfalls nicht allein von den Bundesländern und der Hafenwirtschaft getragen werden können.

Sebastian Jürgens, 62, folgt als neuer Präsident des Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) der früheren HHLA-Chefin Angela Titzrath nach. Hauptberuflich leitet Jürgens seit 2014 als Geschäftsführer die Lübecker Hafen-Gesellschaft. An der Technischen Universität Berlin hat er eine Honorarprofessur für Transportlogistik inne. Der studierte Jurist promovierte in Philosophie, arbeitete dann bei McKinsey, in einer Anwaltskanzlei, bei der Deutschen Bahn und als Vorstand bei der HHLA.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten über die maritime Wirtschaft, über Schifffahrt, Häfen und Werften.

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