Während der in Europa relativ friedlichen Jahre vor dem Beginn des Ukrainekrieges wurden die Themen Aufrüstung und Rüstungsforschung in Deutschland meist in den Hintergrund geschoben. Seit Russland sein Nachbarland überfiel und der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 die „Zeitenwende“ ausrief, ist alles anders: Die Bundeswehr wird aufgerüstet, die Wehrpflicht ist wieder Thema. An der Rüstungsforschung möchten sich aber viele Hochschulen und ihre Professorinnen und Professoren auch heutzutage lieber nicht oder nur so wenig wie möglich beteiligen. Professor Andreas Timm-Giel, Präsident der Technischen Universität Hamburg (TUHH), sagte WELT AM SONNTAG, warum das so ist.
WELT AM SONNTAG: Herr Professor Timm-Giel, die TU Hamburg hat keine sogenannte „Zivilklausel“, um eine mögliche Beteiligung von Professoren, Dozenten oder Studenten an Projekten zur Rüstungsforschung einzugrenzen. Wie gehen Sie an Ihrer Hochschule mit dem Thema um?
Andreas Timm-Giel: Wir haben an der TU Hamburg einen Ausschuss für ethische Fragestellungen eingerichtet. Denn an Technischen Universitäten haben viele Forschungsprojekte einen sogenannten „Dual Use“-Charakter. Neue Erkenntnisse zum Beispiel in den Materialwissenschaften oder Schifffahrt lassen sich in einem zivilen Kontext ebenso nutzen wie auf militärische Weise. Bei den digitalen Technologien gilt das ganz besonders, egal, ob es bei der zuverlässigen Übertragung von Daten zum Beispiel zur Steuerung einer Drohne für die Bundeswehr geht oder zur Vorbereitung einer OP aus dem Krankenwagen. Die TU Hamburg fokussiert sich auf Technik für die Menschen und Ingenieurslösungen gegen den Klimawandel. Entsprechend haben wir im Präsidium festgelegt, dass wir bei allen Dual-Use-Projekten die zivilen Anwendungen und zivile Förderung im Vordergrund sehen. Militärische Forschung ist nicht im Fokus der TUHH.
WAMS: Wie streng wirken solche Arten von Selbstverpflichtungen an Hochschulen?
Timm-Giel: Unser Grundgesetz garantiert im Artikel 5 die Freiheit von Wissenschaft, Forschung, Lehre, Kunst und Kultur. Wenn ein Professor Rüstungsforschung betreiben will, kann er es grundsätzlich auch tun, es darf nicht per se abgelehnt werden. Die Wissenschaftsfreiheit gilt auch in diesem Fall und ist grundsätzlich schützenswert. Sonst könnte ich als Präsident der Hochschule ebenso gut auch sagen, ich will nicht, dass du an „Green Technologies“ forschst, weil ich nicht an den Klimawandel glaube. Wir geben Projekte, die ethisch kritisch sind, und dazu gehören Projekte der Verteidigungsforschung, in den Ausschuss für ethische Fragestellungen, der Empfehlungen, u.a. zu entsprechende Auflagen gibt, die das Präsidium dann diskutieren und beschließen kann. Wir sind als Hochschulleitung zum Beispiel nicht verpflichtet, zusätzliche zentrale Mittel zu bestimmten Forschungsprojekten zu geben oder zusätzliche Schutzmaßnahmen durchzuführen, die beim Umgang mit sensiblen Daten gefordert sind.
WAMS: Wissen Sie als Präsident, welche Professuren an Rüstungsprojekten beteiligt sind?
Timm-Giel: Jedes Projekt, das über Drittmittel finanziert ist, muss eine Drittmittelanzeige anfertigen. Und wir haben auch ein Forschungs-Informationssystem, wo alle Projekte aufgeführt sind. Deshalb wissen wir schon, worum es bei allen unseren Forschungsprojekten geht.
WAMS: Verändern sich an der TU Hamburg die Diskussionen darüber, was im Kontext von Rüstungsforschung möglich sein sollte oder kann? Auf gesellschaftlicher Ebene verschieben sich die Meinungen seit dem Beginn des Ukrainekrieges ja deutlich.
Timm-Giel: Ja, die Zeitenwende kommt überall an, auch bei uns. Und natürlich müssen wir einen ordentlichen Diskurs darüber führen, ob alle deutschen Universitäten flächendeckend Rüstungsforschung betreiben sollen. Ich sehe das allerdings mit Sorge und bin immer mehr der Meinung, dass wir in Deutschland das Pendel überschwingen lassen – von der Nicht-Militärforschung vergangener Jahrzehnte hin zu einer Debatte, bei dem wir explizit zur Rüstungsforschung und Kriegstüchtigkeit aufgefordert werden.
WAMS: Wie positioniert sich die TU Hamburg bei den zentralen Forschungsthemen dieser Zeit?
Timm-Giel: Die TU Hamburg ist relativ klein, mit etwa 100 Professoren. Wir haben ein Zehntel des Budgets der TU München. Daher müssen wir uns fokussieren. Wir haben uns entschieden, uns auf ein globales Problem zu fokussieren und mit wissenschaftlichen Mitteln gegen den Klimawandel bzw. dessen Folgen zu arbeiten. In Hamburg sind die Universitäten weitgehend komplementär aufgestellt. Wir kooperieren mit allen wissenschaftlichen Partnern in Hamburg, in vielen wissenschaftlichen Bereichen, auch in der Lehre tauschen wir uns aus. Das ist eine sehr offene Beziehung. Wegen der Komplementarität am Standort, wo es beispielsweise eine Universität der Bundeswehr gibt, und unserer genannten Fokussierung müssen und wollen wir nicht einen Schwerpunkt zur Rüstungsforschung aufnehmen. Das wäre übrigens auch sehr kompliziert, weil mit einem solchen Forschungsgegenstand auch die Infrastruktur einer Hochschule viel stärker gesichert werden muss.
WAMS: Ignorieren Sie das Thema der Aufrüstung und Rüstungsforschung dann gewissermaßen?
Timm-Giel: Ich will den Studierenden den Optimismus vermitteln, dass sie mit ihrem Wissen die Welt verbessern können, dass die globale, interkulturelle Welt lohnenswert ist. Daher ist auch unser Campus für alle Nationen offen, d.h. auch für iranische, türkische, israelische oder US-amerikanische Studierende, um nur wenige Nationalitäten unserer Studierenden beispielhaft zu nennen. Ein Drittel unserer Studierenden ist nicht deutsch. Wir wollen eine internationale Hochschule sein. Bei Doktoranden wollen wir die besten auswählen, egal, woher sie kommen – und egal, welches Geschlecht sie haben. Diese Offenheit möchte ich den Studierenden beibringen. Es gibt ein interkulturelles Zusammenleben, und das ist gut so. Ich möchte Studierende ausbilden, die sich dann am Ende selbst entscheiden können, ob sie in die Rüstungsindustrie oder zu Unternehmen gehen, die zivile Anwendungen im Vordergrund sehen. Es ist wichtig, verantwortungsvolle junge Menschen auszubilden, die ihre Entscheidungen selbst treffen können, und die bei uns auch eine interkulturelle Kompetenz bekommen haben.
WAMS: Welche Debatte sollte es in der akademischen Gemeinschaft aus Ihrer Sicht zum Thema Aufrüstung und Wehrfähigkeit idealerweise geben? Diese Debatte muss ja in Europa auch weiterhin geführt werden.
Timm-Giel: Ja, es ist zu akzeptieren, dass wir in einer schweren Weltlage sind und dass wir mehr für Rüstung und Verteidigung tun müssen. Ich glaube aber auch, dass aus der Politik und auch von der Rüstungsindustrie die Debatte an der einen oder anderen Stelle überzogen wird. Wir müssen auch Technologien für die Menschen weiterentwickeln und an ihnen forschen. In der Grundlagenforschung können wir oft nicht vorhersehen, wie sich eine Technologie in den kommenden 15 Jahren weiterentwickelt und welche zivilen oder militärischen Anwendungsfälle es dann im Einzelnen gibt. Hier ist eine Selbstbeschränkung an einer solchen Technologie generell nicht zu forschen genauso riskant, wie an einer Technologie mit erwartetem militärischem Nutzen nur noch im Geheimen zu forschen und den wissenschaftlichen Austausch und damit wissenschaftlichen Fortschritt zu gefährden. Insofern ist eine zu enge Zivilklausel genauso schwierig, wie der Verzicht auf Veröffentlichung der Forschungsergebnisse und ein internationaler Austausch.
WAMS: Halten Sie eine Art Aufgabenteilung also für sinnvoll – die Hochschulen der Bundeswehr treiben die Rüstungsforschung voran, und die zivilen Hochschulen halten sich da weitgehend heraus?
Timm-Giel: Nein, so einfach ist es nicht. Im Bereich der Grundlagenforschung findet ein enger Austausch der Universitäten und Forschungseinrichtungen statt. Neben den Universitäten der Bundeswehr sind auch zum Beispiel Fraunhofer-Institute und Teile des Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) stark in die Verteidigungsforschung involviert. Der Ukrainekrieg ist eine Katastrophe, und es ist nicht einfach nachzuvollziehen, warum es so weit kommen konnte. Die Diskussion zu der daraus folgenden Zeitenwende wird an den Hochschulen allerdings sehr unterschiedlich geführt. Es gibt durchaus viele Akteure, die sagen, wir müssen sehr viel mehr Verteidigungsforschung betreiben und Schwerpunkte dazu einrichten. Jede Universität ist da anders aufgestellt, auch in ihrer jeweiligen regionalen Verankerung. In Hamburg steht die TU Hamburg für Technik für die Menschen und technologische Lösungen gegen den Klimawandel. Auch hier soll die Wissenschaftsfreiheit gewährt bleiben: Jede Universität entscheidet selbst, in Diskurs mit seinen Mitgliedern, worauf sie sich in den nächsten Jahren fokussieren wird.
Andreas Timm-Giel, Ingenieur für Elektrotechnik und Informationstechnologie, ist seit Juni 2021 Präsident der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Nach seinem Studium und der Promotion an der Universität Bremen und einer Tätigkeit als Projektleiter in der Wirtschaft sammelte er an der Universität Bremen und unter anderem auch an der Stony Brook University (USA) und am Cork Institute of Technology (Irland) weitere wissenschaftliche Erfahrung.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet unter anderem auch über die Rüstungswirtschaft und über die Bundeswehr.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.