Deutschland leistet sich ein ineffizientes Stromsystem: Der Norden produziert Strom, der Süden verbraucht ihn. Doch nicht immer gelangt die günstige Windenergie dorthin, wo sie benötigt wird. Das führt in Deutschland zu teuren Verwerfungen und auch zu Frust und Wut in Skandinavien. Nicht nur nordeuropäische Politiker fordern deshalb: Deutschland sollte in mehrere Strompreiszonen aufgeteilt werden. Der Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber sieht es in einem neuen Bericht ähnlich, doch Klaus Müller widerspricht: "Die Kosten für Korrekturmaßnahmen im Stromsystem müssen sinken", sagt der Präsident der Bundesnetzagentur im "Klima-Labor" von ntv. Wie Markus Söder ist er allerdings überzeugt: Deutschland kann die Skandinavier auch mit einer großen Stromzone besänftigen - und bayerische E-Autobesitzer mit günstigem Windstrom aus Norddeutschland versorgen.
ntv.de: In Norwegen und Schweden hat man beim Stromhandel den Eindruck: Deutschland importiert günstigen Strom und exportiert im Gegenzug hohe Kosten. Deswegen fordern die Länder die Aufteilung von Deutschland in Strompreiszonen - wie jetzt auch der Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber. Warum sind Sie als Fan des Stromhandels dagegen?
Klaus Müller: Bei diesem Streit geht es um die Dunkelflaute. Die war im Dezember extrem. Deswegen kam es speziell in skandinavischen Boulevardmedien zu dieser harschen Reaktion.
Und von den Regierungen.
Korrekt. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Skandinavien sind verärgert, dass Ereignisse in Deutschland Auswirkungen auf ihren Strommarkt haben. Konkret in diesem Fall haben wir aber keinen billigen Strom importiert, sondern teuer dafür bezahlt: Daran haben Norwegen und Schweden gut verdient. Das ist auch eine innerschwedische Diskussion über den Netzausbau: Hätte es in Schweden mehr Netze gegeben, wäre der Effekt geringer gewesen.
Möglich. In Norwegen wird auch bald gewählt. Trotzdem wird nach wie vor offen darüber diskutiert, den Stromhandel einzustellen, wenn Deutschland keine Stromgebotszonen einführt.
Im Wahlkampf wird immer spekuliert. In unseren Gesprächen betonen die Netzbetreiber und Regulierungsbehörden die Vorteile des gemeinsamen Systems: In den vergangenen Jahren hat Deutschland in Hellbrisen regelmäßig viel erneuerbaren Strom günstig verkauft oder sogar "verschenkt", wenn die Börsenstrompreise negativ waren. Davon hat gerade Skandinavien mit seiner Wasserkraft profitiert: Das Wasser wird nach oben gepumpt, wenn der Strom günstig ist, und später zu guten Preisen an Länder wie Deutschland verkauft. Wir müssen unsere Hausaufgaben erledigen, aber manche Schlagzeilen würde ich speziell in Wahlkampfzeiten hinterfragen.
Was sind eigentlich "Strompreiszonen"?
Stellen Sie sich eine große einheitliche Glasplatte vor, auf die man Wasser gießt: Der Wasserstand ist überall gleich. Dieses Bild können Sie auf Deutschland übertragen: Die Stromerzeugungspreise sind überall gleich. Wird in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein viel günstiger Windstrom produziert, profitieren Bayern und Baden-Württemberg ebenfalls. Länder wie Schweden, die geografisch sehr lang sind, haben es anders geregelt. Dort gibt es im nördlichen, mittleren und südlichen Teil des Landes unterschiedliche Preise. Das hat ökonomische Effekte: Ist der Strom in einer Region teurer, kann ein Unternehmen theoretisch sagen, dass es dort hingeht, wo er günstig ist. Das würde für Deutschland bedeuten, dass die Industrie aus dem Süden in den Norden geht.
Regionen wie Bayern könnten auch einfach günstigeren Strom zur Verfügung stellen.
Der nicht so starke Ausbau der Windenergie in Bayern hat aber nicht primär ökonomische, sondern geografische Gründe: Das funktioniert im norddeutschen Flachland deutlich besser als im gebirgigen Süden - auch wenn es sicherlich politisch-kulturelle Unterschiede gibt.
Wie diplomatisch von Ihnen.
In Schleswig-Holstein profitiert die Bevölkerung einfach seit Jahren von der Windenergie. Wenn Sie mit Landwirten reden, ist klar: Die erzielen einen Teil ihres Einkommens mit Zuckerrüben, einen Teil mit Tourismus und natürlich hat jeder von denen Windkraftanlagen oder Land verpachtet. Das ist in anderen Teilen Deutschlands anders. Ich bezweifle, dass der Süden Deutschlands seine Windenergie nur deswegen ausbaut, weil das Land in mehrere Strompreiszonen aufgeteilt wird.
Es müssen keine Windräder sein, in Süddeutschland gibt es sehr viel Solarenergie - und durch Gebotszonen würde der Netzausbau optimiert. Bisher hat Norddeutschland viel Windenergie gebaut und wurde beim Netzanschluss dafür mit höheren Netzentgelten bestraft.
Aus meiner alten Funktion in Schleswig-Holstein weiß ich: Norddeutschland hat profitiert. Schleswig-Holstein hat zwischenzeitlich 300 Prozent des eigenen Verbrauchs produziert, also zwei Drittel seines Stroms exportiert und damit Geld verdient. Zweitens: die Redispatch-Kosten für Korrekturmaßnahmen im Stromsystem müssen sinken. Aber die trägt Norddeutschland nicht allein, der Süden zahlt mit. Drittens: die hohen Verteilnetzentgelte werden just seit diesem Jahr solidarisch ausgeglichen. Nordrhein-Westfalen zahlt jetzt praktisch dafür, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Netzentgelte gesenkt werden können. Ökonomische Anreize sind wichtig, aber unterschiedliche Stromgebotszonen wären der falsche Weg. So verstehe ich den europäischen Bericht übrigens auch nicht.
Sondern?
Wenn man dieses Dokument im Original liest, stellt man fest: Es wird kein struktureller Engpass festgestellt. Dieser Bericht spricht sich auch nicht für eine Trennung oder Rekonfiguration der deutschen Stromgebotszone aus. Das ist eine wissenschaftliche Arbeit, die mit sehr alten Daten von 2019 ermittelt hat: Würde Deutschland in bis zu fünf Gebotszonen getrennt, könnte man 339 Millionen Euro im Jahr sparen. Diese Erkenntnis kann man so interpretieren, dass Deutschland etwas tun muss, das steht aber nirgendwo. Das ist juristisch nicht unwichtig.
Aber man muss sich doch trotzdem mit diesem Ergebnis auseinandersetzen. Und das passiert auch. Markus Söder hat sogar schon vor der Veröffentlichung gesagt: "Das Land darf nicht gespalten werden." In diesem Punkt ist ihm Solidarität offenbar sehr wichtig.
Das gilt auch für Winfried Kretschmann, Boris Rhein und Markus Wüst. Das sind legitime Positionen. Als Bundesnetzagentur sind wir für ganz Deutschland zuständig und ich stelle mir ebenfalls die Frage: Wie sinnvoll ist eine administrative Herkulesaufgabe wie die Einrichtung von fünf Stromgebotszonen, wenn man anschließend gut 300 Millionen Euro im Jahr spart? Das sind ungefähr ein Prozent der Systemkosten. Diese Umstellung geht auch nicht von heute auf morgen; die Netzbetreiber schätzen, dass sie bis zu zwei Milliarden Euro kosten könnte - und selbst Ökonomen, die sie befürworten, sagen: Es werden Kompensationen fällig.
Aktuell kosten allein diese Redispatch-Maßnahmen 2 bis 4 Milliarden Euro im Jahr: Wir regeln Windparks im Norden ab und fahren eigentlich nicht benötigte Kraftwerke im Süden hoch, weil der Strom an Stellen produziert, wo er nicht gebraucht wird, und nicht von A nach B kommt.
Im Extremfall sind es sogar Kraftwerke in den Nachbarländern. Es gibt trotzdem bessere Alternativen als die Aufteilung in fünf Stromgebotszonen: Ein großer Kritikpunkt aller Nachbarn ist der Netzausbau. Den müssen wir beschleunigen. Das hat die alte Bundesregierung getan. Aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD lese ich heraus: Das wird die neue auch tun.
Die zweite Maßnahme ist das mögliche Comeback der Freileitungen?
Das wäre vielleicht sogar die dritte Maßnahme, die dabei hilft, die Kosten zu senken. Denn das ist die entscheidende Frage: Wie bringen wir die Kosten runter? Die zweite Maßnahme sind für mich allerdings Lokalisierungssignale: Es macht einen Unterschied, wo ich Erneuerbare, Elektrolyseure, oder Kraftwerke einsetze. Bisher durfte jeder im Prinzip dort bauen, wo sie oder er will. Die Anschlusskosten wurden anschließend sozialisiert. Nur diese beiden Maßnahmen haben ein Einsparpotenzial von einmalig 15 bis 16 Milliarden Euro.
Wir bauen das Netz aus und damit ist das Redispatch-Problem gelöst?
Sie haben das korrekte Bild bereits verwendet: Elektronen können genauso im Stau stehen wie Autofahrer zu Beginn der Osterferien, wenn alle an die Nord- und Ostsee wollen. Wenn wir das Problem lösen möchten, brauchen wir mehr und größere Stromautobahnen. Diese leistungsfähigen Übertragungsnetze sind bereits in Planung, werden jetzt genehmigt und dann in möglichst ökologischer Art und Weise gebaut. Erst vor zwei Wochen haben wir als Netzagentur die erste große Stromtrasse A Nord genehmigt. Bald bekommt auch der bayerische E-Autobesitzer günstigen Windstrom aus Norddeutschland.
Mit Klaus Müller sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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