Gerne beruft sich Lars Klingbeil (SPD) dieser Tage auf Zeile 1627 des Koalitionsvertrags: Alle Maßnahmen „stehen unter Finanzierungsvorbehalt“, heißt es dort. Nach welchen Kriterien er die knappen Mittel im Kernhaushalt verteilt, lässt der neue Finanzminister bislang offen.

Nach den nach unten korrigierten Zahlen der Steuerschätzer für die nächsten Jahre sollte für die schwarz-rote Regierung klar sein, was jetzt als allererstes zu tun ist: Sie müssen alle Wahlgeschenke, die sich im Koalitionsvertrag finden, schnellstens und unwiderruflich wieder einsammeln.

Dazu gehören: Ausweitung der Mütterrente, niedrigere Gastro-Steuer, höhere Pendlerpauschale – alles Punkte, auf denen vor allem Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder in den Koalitionsverhandlungen bestand. Auch das Festhalten an der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren, bekannt als „Rente mit 63“, seit jeher ein Lieblingsprojekt der SPD, gehört in diese Reihe.

Das Kriterium dafür, welche Maßnahmen umgesetzt werden, ist so einfach wie bestechend: Sie müssen die Chance auf ein höheres Wirtschaftswachstum in diesem Land verbessern. Ökonomen sprechen vom Potenzialwachstum.

Es hängt davon ab, wie viele Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wie viel privates Kapital es gibt, das investiert werden kann. Zudem ist der Grad der Automatisierung und Digitalisierung in Betrieben und der Verwaltung entscheidend, um Produktivitätsfortschritte zu erzielen. An allem mangelt es aktuell.

Die Koalitionäre haben dies durchaus erkannt. „Unser Ziel ist es, das Potenzialwachstum wieder auf deutlich über ein Prozent zu erhöhen. Das wird unsere klare Priorität“, ist direkt am Anfang auf Seite 4 des Koalitionsvertrags zu lesen.

Alles muss dem Wirtschaftswachstum unterstellt werden

Aktuell liegt das Potenzial lediglich bei 0,4 Prozent. Wenn dieser Satz ernst genommen wird – und er muss ernst genommen werden – dann erübrigt sich das mit den Wahlgeschenken eigentlich von selbst.

Werden Müttern mit Kindern, die vor 1992 geboren sind, künftig drei statt 2,5 Prozent Rentenpunkte angerechnet, erhöht das nicht das Arbeitskräfteangebot – es kostet aber Milliarden Euro. Auch durch die Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen in Restaurants von 19 Prozent auf sieben Prozent wird das Arbeitsangebot nicht gesteigert, die Produktivität nimmt nicht zu. Wegen der höheren Pendlerpauschale wird kaum jemand plötzlich seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen.

Sogar offen kontraproduktiv ist die Verlängerung der abschlagsfreien Rente. Durch sie werden Menschen sogar ausdrücklich ermutigt, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.

Das Argument, dass viele nach 45 Jahren in einem körperlich anstrengenden Beruf einfach nicht mehr können, greift in vielen Fällen nicht. Studien zeigen, dass es überwiegend Menschen mit Bürojobs sind, die das Rentengeschenk nutzen.

Es mag in einzelnen Bevölkerungsgruppen für Verdruss sorgen. Aber angesichts der Wirtschaftsmisere muss jetzt alles dem Wirtschaftswachstum und damit der dauerhaften Sicherung des Wohlstands unterstellt werden.

Es gibt etliche Punkte im Koalitionsvertrag, die tatsächlich helfen können: Anreize für längeres Arbeiten, Steuererleichterungen für Unternehmen, Abbau von Bürokratie und Ausbau der digitalen Infrastruktur gehören dazu. Danach kommt vielleicht auch wieder die Zeit für Geschenke.

Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.

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