Die russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul waren zum Scheitern verurteilt. Nicht nur, weil Putin keinen Frieden will, er kann den Krieg auch aus ökonomischen Gründen kaum einfach stoppen. Die Logik der Kriegswirtschaft zwingt ihn weiterzumachen.

Die Erwartungen an die Verhandlungen in Istanbul - die ersten direkten Gespräche zwischen der Ukraine und Russland seit mehr als drei Jahren - waren schon vor ihrem Beginn nicht groß. Und tatsächlich endete das Treffen schnell und ohne Ergebnis. Es kam, wie US-Präsident Donald Trump, der gar nicht erst hinflog, vorausgesagt hatte: "Nichts wird passieren." Ex-CIA-Analyst Rob Dannenberg nannte das Schauspiel am Bosporus ein "Friedenstheater". Putin habe kein echtes Interesse an einer Einigung.

Putin setzt auf militärische Stärke, weil er sich auf dem Schlachtfeld in der stärkeren Position wähnt. Aber die militärische Lage ist nur ein Grund für Putins mangelndes Interesse am Frieden. Ein anderer Grund ist die wirtschaftliche Entwicklung in Russland. Die Kriegswirtschaft, die er für den Angriff auf die Ukraine geschaffen hat, lässt ihm kaum eine Wahl. Er hat sich ökonomisch in eine Sackgasse manövriert. Wenn die Waffen plötzlich schweigen und die russische Kriegswirtschaft ins Stocken gerät, könnte das Putins Macht gefährden.

Ganz Russland ist auf Krieg getrimmt

Seit seinem Überfall auf die Ukraine hat Putin die russische Wirtschaft vollkommen auf Krieg getrimmt. Die Verteidigungsausgaben liegen inzwischen bei gut 7 Prozent der Wirtschaftsleistung und verschlingen offiziell ein Drittel der Staatsausgaben. Faktische alle freien Ressourcen werden von Waffenfirmen aufgesaugt. Überall fehlen Arbeitskräfte. Das gesamte Wachstum der russischen Wirtschaft hängt am Rüstungssektor.

Wie jeder Krieg ist Putins Überfall auf die Ukraine auch ein ökonomisches Experiment: "Der Krieg ist eigentlich für die Wirtschaft erstmal nicht schlecht, denn er bedeutet, dass der Staat sehr viel Geld ausgibt", sagt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik zu ntv.de. "Die Ausgaben für Waffen und Soldaten wirken wie ein riesiges Konjunkturpaket."

Der Geldregen für das Militär bläht Wachstum und Beschäftigung in Russland auf. Putins Kriegswirtschaft stößt inzwischen an ihre Kapazitätsgrenze. In Russland gibt es nicht genug Bauarbeiter, Busfahrer oder Polizisten, weil immer mehr Männer als Soldaten an die Front abkommandiert werden. "Paradoxerweise erschweren dieselben Faktoren, die Russlands Fähigkeit zur Kriegsführung zunehmend einschränken, zugleich auch den Weg zu einem einfachen Frieden", warnten Marc De Vore von der Universität von St. Andrews und Alexander Mertens, Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie, schon im vergangenen November in "Foreign Policy".

Waffenstillstand könnte Crash auslösen

Russlands Kriegsmaschinerie plötzlich anzuhalten, würde einen massiven Wirtschaftseinbruch auslösen. Weil die Kreml-Ökonomie so abhängig von der Produktion von Panzern, Raketen und Granaten ist, wäre der Crash umso dramatischer, wenn all die Waffen plötzlich nicht mehr gebraucht würden. Die unersättliche Nachfrage des Militärs hat die Löhne hochgetrieben und die Zinsen auf astronomische 21 Prozent getrieben. Zivile, nicht-staatliche Firmen haben in Russland derzeit kaum eine Chance sich zu finanzieren. Der aufgeblähte Militärapparat hat zivile Unternehmen völlig verdrängt.

Wenn Hunderttausende Soldaten von der Front zurückkehren würden, hätte Putin ein riesiges Problem. Ein Heer von kampfgestählten Veteranen wäre plötzlich arbeitslos. Der nichtmilitärische Bereich der Wirtschaft könnte diese Menschen kurzfristig nicht beschäftigen. Eine Erfahrung, die die Sowjetunion schon am Ende des Kalten Kriegs gemacht hat, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs plötzlich Millionen Rotarmisten ohne Job auf der Straße standen und weite Teile der Bevölkerung verarmten. Selbst in den USA führte die Demobilisierung von Millionen GIs und der plötzliche Rückgang der Militärausgaben am Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer kurzen, aber heftigen "V-Day-Rezession", bei der die Wirtschaftsleistung um fast 11 Prozent einbrach.

Für Putin wäre ein solcher Wirtschaftseinbruch sozialer Sprengstoff. Die Unzufriedenheit könnte sich gegen ihn richten. Dadurch wäre Frieden in der Ukraine ein Gefahr für das russische Regime: "Die russische Führung hat sich mit einem hohen und steigenden Militäretat in eine Sackgasse manövriert, der sie zwingt, eine aggressive Außenpolitik fortzusetzen", schreibt der russische Politikwissenschaftler Pavel Luzin. "Sie kann das Militärbudget nicht einfach kürzen."

Putin muss neue Ziele ins Visier nehmen

Das stellt Putin vor ein Dilemma: Ewig so weitermachen kann er auch nicht. Russlands Ressourcen sind endlich. Der Kreml kann die Militärausgaben nicht auf Dauer dem aktuellen Niveau aufrechterhalten, ohne Russland immer weiter in eine Planwirtschaft zu verwandeln, bei der an anderen Stellen massive Engpässe entstehen, die ebenfalls zu sozialen Spannungen führen. Gleichzeitig gehen die riesigen Altbestände an Panzern, Artilleriegeschützen und Schützenpanzern aus der Sowjetzeit zur Neige.

Ein Ausweg bleibt Putin in diesem Dilemma: Er muss neue Ziele ins Visier nehmen. Statt sich mit der Demobilisierung selbst in die Rezession zu treiben oder im Dauer-Krieg in die Mangel-Wirtschaft zu rutschen, ist es für den Kreml naheliegend, den Krieg auf weitere Länder auszudehnen, um neue Ressourcen zu erobern und so die Militärausgaben zu stemmen. Von Julius Cäsar über Napoleon bis Saddam Hussein haben Diktatoren es so gemacht, um ihre Millionenheere zu finanzieren - und ihre Soldaten zu beschäftigen.

Wie dieses Szenario bei Putin aussehen könnte, kann man sich leicht ausmalen: Mit militärischer Übermacht könnte Moskau Nachbarländer bedrohen, um eingefrorenes Vermögen freizupressen, Sanktionen aufzuheben oder Gas-Pipelines wieder in Betrieb zu nehmen. Um die Kriegsmaschine am Laufen zu halten, könnte Putin weitere Nachbarstaaten angreifen. Selbst wenn Putin Frieden schlösse, bedeutete das nicht das Ende der russischen Aggression: "Wie auch immer Russland seinen jetzigen Krieg beendet, werden allein die ökonomischen Realitäten des Landes neue Formen der Unsicherheit für Europa erzeugen", warnen DeVore und Mertens. Putin braucht die Kriegswirtschaft - und die Kriegswirtschaft braucht den Krieg.

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