Vier Krisen sollten genug sein, um wachzurütteln. Die Corona-Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise und Trumps Zollkrieg gegen den Rest der Welt haben die Schwächen offengelegt, die sich in einem Jahrzehnt starken Wachstums in der deutschen Wirtschaft festgefressen haben. Dass Deutschland nach dieser goldenen Zeit, in der es kaum Druck zu tiefen Reformen gab, strukturelle Veränderungen braucht, stellt kaum jemand in Abrede. Die schon vor dem Regierungswechsel verabschiedeten milliardenschweren Investitionsprogramme in die Infrastruktur und die geplanten höheren Militärausgaben locken zwar Investoren an und versprechen, die Konjunktur in den kommenden beiden Jahren zu beflügeln. Damit aus der Milliardenspritzer aber ein selbsttragender Aufschwung wird, muss sich in Wirtschaft und Politik grundlegend etwas ändern.

Wie dieser Wandel aussehen müsste, haben Ökonomen der OECD jetzt skizziert. Ihr Versprechen: Wenn die deutsche Politik die Reformvorschläge ernst nimmt und umsetzt, könnte die deutsche Wirtschaft in den kommenden zehn Jahren um durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte pro Jahr schneller wachsen, als wenn alles beim Alten bleibt. Das mag zunächst nach wenig klingen, aber nur auf den ersten Blick. Das langfristige Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft liegt laut dem Kreis der sogenannten Wirtschaftsweisen bei durchschnittlich 0,4 Prozent pro Jahr; clevere Reformen könnten dieses langfristige Wirtschaftswachstum also laut der OECD verdreifachen.

Ob die schwarz-rote Koalition aber bereit ist, die nötigen Reformen anzugehen, ist eine andere Frage. Viele Reform-Forderungen stellt die OECD, eine Denkfabrik vorwiegend wohlhabender Volkswirtschaften, seit Jahren. Und für das Gros der Experten-Vorschläge ist erheblicher politischer Mut nötig.

Etwa, wenn es darum geht, die Sozialversicherungen zukunftsfest aufzustellen. Ohne Reformen, sei die finanzielle Stabilität von Renten-, Pflege- und gesetzlicher Krankenversicherung gefährdet, schreiben die Autoren des „OECD Wirtschaftsbericht Deutschland 2025“. Wenn nichts getan werde, würden die Ausgaben der Sozialversicherung bis zum Jahr 2045 um eine Größenordnung steigen, die 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht. Basierend auf heutigen Werten wären das 150 Milliarden Euro zusätzlich; in zwanzig Jahren wäre der Betrag entsprechend höher.

Die von den OECD-Experten vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen sind allerdings unpopulär: Der Staat soll aufhören, Frühverrentungen zu unterstützen, sodass sie finanziell weniger attraktiv sind als bisher, heißt es in dem Papier. Vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 67 Jahren aus dem Arbeitsleben zu scheiden, solle nicht mehr möglich sein. Noch ist es laut der Deutschen Rentenversicherung gängig: Von den rund 890.000 Menschen, die 2023 erstmals in Altersrente gingen, hatten demnach nur etwa 44 Prozent das reguläre Rentenalter erreicht, während der Rest vorzeitig in den Ruhestand ging.

In diesem Zusammenhang kritisieren die Autoren die Ausnahmeregeln für Arbeitnehmer mit 45 Berufsjahren. Entscheidend sei, dass die Menschen hierzulande später in Rente gehen – und zwar nicht nur auf dem Papier. Dazu gehört langfristig auch, das gesetzliche Renteneintrittsalter anzupassen: Als vorbildlich gelten Länder wie Griechenland, wo es mit der Lebenserwartung steigt. Positiver Nebeneffekt: Ist dieser Automatismus einmal verankert, entfallen die wiederkehrenden Debatten um die Anhebung der Altersgrenze. Das Gesundheitssystem müsse effizienter, digitaler und schlanker werden. Dazu gehöre auch, Krankenhäuser zu schließen.

Umbau des Steuersystems

Die OECD-Ökonomen schlagen außerdem einen erheblichen Umbau des Steuersystems hierzulande vor – ein notorisch schwieriges Terrain. Wenig kontrovers dürfte eine zentrale Forderung sein: Die persönliche Einkommenssteuer soll sinken, sodass es attraktiver wird, zu arbeiten. Das könnte dabei helfen, den Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen dürfte, zu lindern. Wenn Arbeitnehmern mehr Netto vom Brutto bleibt, werde es etwa attraktiver, von Teilzeit auf Vollzeit aufzustocken oder überhaupt wieder zu arbeiten. Dazu beitragen soll auch eine Reform des Ehegattensplittings und der Besteuerung von Zweitverdienern in der Familie. Schon die Reform des Ehegattensplittings – eine jahrzehntealte Forderung der Organisation – dürfte auf erhebliche Widerstände stoßen.

Und dabei geht es noch gar nicht um Steuern, die an anderer Stelle steigen müssen, um die Maßnahmen gegenzufinanzieren. Kurz gefasst sollen Vermögen und Konsum stärker besteuert werden, um Arbeit billiger zu machen. Etwa bei Erbschaften: So könne die Regierung etwa Unternehmenserben, die bisher bei der Erbschaftssteuer privilegiert behandelt werden, stärker zur Kasse bitten. Bei allen Erbschaften sollten die Freibeträge reduziert werden. Beispielsweise können Ehepartner und eingetragene Lebenspartner hierzulande 500.000 Euro steuerfrei erben, erst Werte, die darüber hinausgehen, müssen versteuert werden. Das solle nicht nur die Einnahmen, sondern auch Chancengleichheit in der Gesellschaft verbessern.

Auch bei Zinsen und Dividenden, die bisher unabhängig vom persönlichen Steuersatz mit einem pauschalen Satz besteuert werden, sollten Vergünstigungen gestrichen werden. Die Grundsteuer könnten steigen, genauso wie Steuern auf Alkohol und Tabak. Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer sollten ebenfalls wegfallen. Grundsätzlich könne die Bundesregierung über eine höhere Mehrwertsteuer nachdenken, um Arbeit, weniger stark mit Steuern und Abgaben zu belasten.

In diesem Zusammenhang kritisieren die Autoren zwei geplante Maßnahmen der Bundesregierung: Die Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie und die Anhebung der Pendlerpauschale seien teuer und verzerrend. Zudem gingen hierzulande jedes Jahr 22 Milliarden Euro an Mehrwertsteuereinnahmen durch Betrug und Hinterziehung verloren. Nötig seien der verpflichtende Einsatz von elektronischen Registrierkassen, die Pflicht zu elektronischen Rechnungen und ein Verbot der Zahlung mit Bargeld bei hohen Beträgen.

Auf der Ausgabenseite müsse der Staat stärker sicherstellen, dass Gelder sinnvoll ausgegeben werden. Die Verwaltung muss schneller digitalisiert werden, die Beschaffung soll moderner und staatliche Ausgaben sollten stärker als bisher überprüft werden. Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte müssen beschleunigt werden, um eine schnelle Umsetzung der Investitions- und Ausgabenpläne sicherzustellen.

Gleichzeitig müsse der Staat die Unternehmen entlasten und es ihnen erleichtern, ihrer Arbeit nachzugehen. Dazu gehöre auch der Abbau und die Vereinheitlichung von Regeln und Vorgängen: „Der hohe Verwaltungsaufwand, der mit komplexen und uneinheitlichen Vorschriften verbunden ist, muss reduziert werden“, schreiben die Verfasser. Gleichzeitig soll mehr Wettbewerb zwischen Unternehmen dafür sorgen, dass die deutsche Wirtschaft produktiver und innovativer wird. Der Staat mache es vielen Menschen, vor allem auch Migranten, zu schwierig, zu arbeiten. Die Hürden, um hierzulande ein Unternehmen zu gründen oder einen bestimmten Beruf auszuüben, seien weit höher als in anderen wohlhabenden Industriestaaten, das gelte besonders für das Handwerk. Ausländische Qualifikationen etwa von Lehrern; Pflegepersonal seien komplex und langwierig. Wie schwer ein Umdenken ist, zeigt allerdings der Blick auf die tatsächliche Politik: Erst vor fünf Jahren seien in zwölf Handwerksberufen wieder Qualifikationsanforderungen für die Betriebsgründung eingeführt wurden – und das trotz des Fachkräftemangels.

Tobias Kaiser verfolgt andere europäische Volkswirtschaften, schreibt über den Standortwettbewerb auf dem Kontinent und berichtet vor Ort über Entwicklungen und deren Folgen für Deutschland.

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