Wer wissen möchte, wie zufrieden die Berliner mit der Sauberkeit ihrer Stadt sind, muss eigentlich keine Umfrage starten. Ein einfacher Sparziergang durch den Kiez reicht in der Regel völlig aus: Wer den Hundehaufen erfolgreich ausweicht, findet in der Regel spätestens an der übernächsten Ecke entweder eine alte, versiffte Matratze am Straßenrand oder mindestens einen überquellenden Mülleimer.
Trotzdem will die Senatsverwaltung es von ihren Bürgern genau wissen und lädt sie deshalb zu einer Online-Befragung ein. 10 bis 15 Minuten lang soll man Fragen rund um die „Stadtsauberkeit“ beantworten. Mitmachen kann man auf Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Russisch und Ukrainisch und natürlich kann man auch etwas gewinnen: Tickets für Spiele Berliner Sportvereine und eine Führung durchs Rote Rathaus.
Man kann aber auch die Gewissheit gewinnen, wie dramatisch das Problem in Berlin tatsächlich ist. Denn schon die Fragen und Antwortmöglichkeiten offenbaren das Bild einer gescheiterten Stadt.
„Nur ein paar Müllstücke zu sehen“
Oft ist die Beantwortung gar nicht so leicht, denn man muss sich entscheiden. Zum Beispiel bei der Frage: „Welche Verschmutzungen sind in Ihrer Wohngegend besonders stark ausgeprägt?“ – ja, genau: Dass es in der Umgebung aller Teilnehmer dreckig ist, wird als gegeben vorausgesetzt. Es geht nur noch darum, was besonders schlimm ist. Und das Gemeine ist: Man darf nur fünf Antworten auswählen.
Nun muss man sich festlegen, was man schlimmer findet: „Menschenkot und -urin“ oder doch „Drogenbesteck“? Will man einen der wertvollen fünf Plätze für „Sperrmüll, zum Beispiel illegal abgestellte Möbel, Matratzen, Elektrogeräte“ ausgeben, auf die Gefahr hin, dass man dann „Hundekot“ nicht mehr anhaken kann, wenn man sich auch über „Autowracks“ (der 1. Mai lässt grüßen) und „Herumliegende Müllsäcke“ beklagen möchte?
Über die Auswahlmöglichkeiten „Zigarettenkippen“, „zu volle Mülleimer“ und „Schmierereien, zum Beispiel illegale Graffiti“ kann man als Berliner ohnehin nur müde lächeln. Als wenn die es in die Top 5 schaffen könnten. Vielleicht doch einer der großen Sammelposten: „Herumliegender kleiner Müll, zum Beispiel Kronkorken, Kaugummireste, Glasscherben“? So kann man mit einer Antwort gleich ein paar Ärgernisse abdecken. Oder: „Herumliegendes Einweggeschirr und Verpackungen, zum Beispiel Kaffeebecher, Pizzakartons“ – klar, gibt es auch an jeder Ecke.
Fast schon philosophisch wird es bei der Frage nach der Situation in der eigenen Straße. Hier muss man sich für eine einzige Option entscheiden und hier gibt es immerhin die Möglichkeit: „Kein Müll zu sehen“. Aber die anderen haben es in sich, sie reichen von „Nur ein paar Müllstücke zu sehen“ bis zu „Viele Müllhaufen ohne Abstand, am Straßenrand liegt durchgehend Müll und dieser reicht bis auf den Fußweg“.
Aber wer sich für irgendetwas dazwischen entscheiden möchte, muss wieder eine schwierige Wahl treffen: Handelt es sich um „Einige Müllstücke mit großem Abstand“, um „Viele Müllstücke mit kleinem Abstand oder ganze Müllhaufen mit großem Abstand“ oder doch um „Einige Müllhaufen mit kleinem Abstand“ oder gar um „Viele Müllhaufen ohne Abstand und am Straßenrand liegt durchgehend Müll“.
Wann werden Müllstücke eigentlich zum Müllhaufen? Wie groß ist wohl ein kleiner Abstand zwischen zwei Müllhaufen aus Sicht des Berliner Ordnungsamts? Kann man das abmessen? Sollte man den Müll beim Messen auch gleich aufheben? Fragen über Fragen.
Die wichtigste ist jedenfalls: Wie kann es eine Stadt zulassen, dass die Antwortmöglichkeit „Viele Müllhaufen ohne Abstand, am Straßenrand liegt durchgehend Müll und dieser reicht bis auf den Fußweg“ auch nur im Bereich des möglichen ist? Man muss sich das mal in anderen Regionen Deutschlands vorstellen. Wie irritiert würden wohl Bewohner bayerischer Kleinstädte vor einer solchen Umfrage sitzen?
Die Berliner erfahren in der Befragung immerhin, dass sie den Müll über die App „Ordnungsamt Online“ melden könnten. „Das ist das sogenannte Anliegenmanagementsystem“, heißt es. Es gibt dann noch eine ganze Reihe weiterer Fragen, bei denen man sich wünschen kann, ob Müllsünder härter bestraft werden sollten oder welche Sauerei das Ordnungsamt besonders nachdrücklich kontrollieren sollte.
Gegen Ende wird es dann psychologisch interessant. „Es kommt schon mal vor, dass man seinen Müll nicht ordnungsgemäß entsorgt. Zum Beispiel lässt man ihn auf die Straße fallen oder auf einer Parkbank liegen“, gibt sich Verwaltung verständnisvoll. „Dabei kommen einem manchmal Gedanken. Hatten Sie schon einmal einen der folgenden Gedanken?“
Einige der möglichen Antworten: „Ich muss mich jetzt auf wichtigere Dinge konzentrieren, als den Müll richtig zu entsorgen.“ Oder auch: „Es ist Aufgabe der Stadt, den Müll einzusammeln. Ich zahle schließlich Steuern.“ Oder: „Mir kann doch niemand sagen, wie ich meinen Müll zu entsorgen habe.“ Wie wäre es mit: „Es achtet sowieso niemand darauf, ob ich den Müll hier fallen lasse.“ Oder eben die wahrscheinlichste der Berliner Antworten: „Es liegt auch schon anderer Müll herum. Das bisschen mehr macht keinen Unterschied.“ Die Stadt verspricht bei dieser Frage noch einmal ausdrücklich, die Antworten natürlich nur anonymisiert auszuwerten.
Man darf gespannt sein, wie die Umfrage wohl ausgehen wird. Die Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen. Im Winter gibt es wenigstens die theoretische Chance, dass eine dünne Schneeschicht gnädig den schlimmsten Dreck am Straßenrand zudeckt. Aber Vorsicht: Es ist auch die Zeit der getarnten Hundekot-Tretminen.
Philipp Vetter ist Teamleiter im Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und BUSINESS INSIDER. Er lebt seit fünf Jahren in Berlin und hat davor im deutlich saubereren München gewohnt.
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