Gunnar Groebler verwendet gerne das Bild von einer Brücke, um die aktuelle Lage seines Unternehmens symbolisch darzustellen. „Wir haben uns auf den Weg der Transformation gemacht“, beschreibt der Vorstandschef des Stahlherstellers Salzgitter. Konkret auf den Weg von einer CO₂-intensiven Produktion im klassischen Hochofen mit Koks und Kohle hin zu grünem Stahl aus einer wasserstoffbetriebenen Direktreduktionsanlage und einem Elektrolichtbogenofen mit nur noch einem Bruchteil der bisherigen Emissionen. „Für diese CO₂-Reduzierung gibt es einen gesellschaftlichen Auftrag“, beschreibt Groebler vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung Düsseldorf (WPV). „Das hat uns auf die Brücke draufgeschoben.“ Nun aber gehe es darum, von dieser Brücke auch wieder runter zu kommen und festen Boden unter den Füßen zu haben.

Denn wie wackelig der eingeschlagene Weg ist, zeigt der Fall ArcelorMittal. Der weltgrößte Stahlkonzern hat jüngst seine Pläne für eine grüne Stahlproduktion an den Standorten Bremen und Eisenhüttenstadt gestoppt. Begründet wird diese Entscheidung mit fehlender Wirtschaftlichkeit – trotz bereits bewilligter Fördergelder von Bund und Ländern in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Auf dieses Geld verzichtet ArcelorMittal nun. „Die Rahmenbedingungen ermöglichen aus unserer Sicht kein belastbares und überlebensfähiges Geschäftsmodell“, sagt Reiner Blaschek, der Chef der europäischen Flachstahlsparte von ArcelorMittal, mit Verweis auf hohe Stromkosten und Netzentgelte und zu wenig verfügbaren Wasserstoff.

Diese Probleme sieht auch Salzgitter. Trotzdem schließt Groebler einen Rückzieher aus. Er will weiterhin auf der anderen Seite der Brücke absteigen. Allerdings laufen die Bauarbeiten auf dem Werksgelände am Stammsitz in Salzgitter auch schon auf Hochtouren. „Wir werden diese Baustelle nicht anhalten, das macht gar keinen Sinn“, sagt der Manager. „Wir werden diese Baustelle jetzt sauber zu Ende bringen und unsere Anlagen in Betrieb nehmen und dann mit diesen Anlagen auch am Markt präsent sein und alles dafür tun, dass wir damit wettbewerblich präsent sind.“

Gleiches gilt auch für Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) und die Saar-Stahl-Holding (SHS). Beide wollen ihre begonnenen Transformationsprojekte fortsetzen, versichern die Unternehmen auf WELT-Anfrage. „Wir bekennen uns klar zum Standort Duisburg und zur Transformation unseres Geschäftsmodells“, heißt es etwa von TKSE. Deutschlands größter Hersteller plant am Stammsitz in Duisburg den Bau einer Direktreduktionsanlage und bekommt dafür vom Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen zusammen rund zwei Milliarden Euro an Fördergelder. Und bei diesem einen Projekt soll es nicht bleiben. „Perspektivisch endet unser Transformationsansatz nicht mit dem Bau einer einzelnen Anlage“, sagt ein Sprecher. „Unser Zukunftskonzept zielt auf die schrittweise Dekarbonisierung der Rohstahlproduktion in Duisburg. Dabei prüfen wir alle denkbaren Optionen.“

Sowohl im Duisburg als auch im Saarland ist der Zeitplan aber noch deutlich länger als bei Salzgitter. Im ersten Halbjahr 2027 soll es den ersten grünen Stahl aus dem bis dahin umgebauten Werk Niedersachsen geben. Und die dann produzierten Mengen seien auch schon verkauft, versichert Groebler vor der WPV. „Wir haben in erheblichem Umfang Reservierungsvereinbarungen.“ Und die seien auch mit Geld hinterlegt. „Unsere Kundengruppen haben sich selbst CO₂-Ziele gegeben. Und wenn Sie ein stahlintensives Produkt haben, ob das eine Waschmaschine ist oder ein Auto oder ein Kran, selbst ein Panzer, dann ist Stahl der einfachste Weg, dieses Produkt weitestgehend zu dekarbonisieren.“ Das habe für die Kunden einen Wert.

Klassische Hochofenroute künftig nicht mehr tragfähig

Noch dazu steigt der Druck auf die Stahlindustrie von Jahr zu Jahr. Groebler verweist etwa auf eine Studie der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG). Danach wird spätestens Mitte der 2030er-Jahre der Schnittpunkt der Kostenkurve und der Wirtschaftlichkeitskurve erreicht. „Dann wird die klassische kohlebasierte Hochofenroute unter den heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen wirtschaftlich nicht mehr tragfähig sein“, folgert Groebler. Ähnliche Aussagen kommen zudem auch von Thyssenkrupp. „Deshalb arbeiten wir gezielt daran, die Voraussetzungen zu schaffen, um auch künftig klimafreundlich Roheisen und Stahl in Deutschland produzieren zu können.“

Salzgitter hat die entsprechende Entscheidung 2022 und damit als Erstes getroffen. „Weil solche Projekte aber länger dauern, haben wir uns frühzeitig auf den Weg gemacht“, beschreibt der ein Jahr zuvor gestartete Konzernchef Groebler. Er sieht Salzgitter damit an der Spitze der Transformation hierzulande. Auch aus Selbstschutz. „Für mittelgroße Stahlunternehmen wie uns ist ein wesentlicher Punkt der Zugang zum Anlagenbau“, erklärt Groebler. Denn es gebe nur eine begrenzte Zahl von Anbietern. „Und wenn die ausgebucht sind, weil alle eine Anlage brauchen, muss man sich ganz hinten anstellen. Also mussten wir vor der Welle sein. Als Pionier diese Transformation von vorne anzugehen, ist für uns der bessere Weg.“ Denn er sei sich nicht sicher, ob die Spätstarter am Ende überhaupt noch die Chance bekommen werden, sich vollständig zu transformieren.

ArcelorMittal bleibt dabei ein Wettbewerber. Und tatsächlich hat der Branchenführer dem Thema grüner Stahl keine grundsätzliche Absage erteilt – sehr wohl aber dem Standort Deutschland. Die entsprechenden Anlagen werden nun in anderen Regionen gebaut: ein Elektrolichtbogenofen zum Beispiel im französischen Dünkirchen für rund 1,2 Milliarden Euro. ArcelorMittal hat allerdings auch andere Möglichkeiten als die Konkurrenz, sagen Branchenexperten. Denn während Salzgitter, Thyssenkrupp, Saarstahl und Co. allein über Anlagen an Standorten in Deutschland verfügen, habe ArcelorMittal ein Netzwerk von Hochöfen und Werken in etlichen Ländern und könne somit ausweichen. Noch dazu stünden sämtliche Standorte im internen Wettbewerb um Investitionen. „Da stehen dann nochmal andere Rendite-Erwartungen hinter als bei den anderen Herstellern in Deutschland.“

Die Entscheidung gegen Deutschland kann gleichwohl als Misstrauen und Konsequenz gegenüber der Wirtschaftspolitik hierzulande betrachtet werden. Seit Jahren schon fordern Unternehmen und Wirtschaftsverbände Verbesserungen bei Rahmenbedingungen wie Energiekosten, Genehmigungsverfahren oder der hohen Bürokratiebelastung. Trotzdem ändert sich nichts oder allenfalls wenig. Die Entscheidung von ArcelorMittal zeige nun deutlich, „dass wir einen echten Diskussionsbedarf haben zu den Rahmenbedingungen“, warnt Groebler. Politik und Gesellschaft müssten sich entscheiden. Denn wenn man erst in fünf Jahren sagen würde, dass Stahl aus gesicherten Quellen gebraucht werde und das Material nicht aus China oder aus Indien sein solle, dann könne es passieren, dass nicht mehr ausreichend Stahlerzeugung da ist. Die passenden Rahmenbdingungen würden dann fehlen.

Eigene Kapazitäten seien aber wichtig, betont Groebler. „Stahl ist der Ausgangspunkt fast aller Wertschöpfungsketten. Und das sollte man nicht aus der Hand geben. Denn das ist eine strategische Kompetenz und Stahl damit eine strategische Industrie.“ In Deutschland und Europa werde derzeit viel über Resilienz geredet. „Dann aber ist der Zugriff auf eine strategische Ressource wie Stahl unumgänglich.“ Schließlich gehe es um Themen wie Verteidigung, wie Infrastruktur mit Brücken und Schienen oder wie Energie mit unter anderem Windrädern oder dem geplanten Aufbau eines Wasserstoffkernnetzes.

Darüber hinaus verweist Groebler auf das Thema Arbeitsplätze. Zwar sind bei den Stahlunternehmen selbst nur noch knapp 90.000 Mitarbeiter beschäftigt. Diese Zahl könne aber mit sieben multipliziert werden, wenn man diejenigen Betriebe im Umfeld der Stahlunternehmen einbezieht. „Das sind Handwerker, Dienstleister, Instandhalter von Anlagen – also Unternehmen, die es braucht, um so einen Industriestandort tatsächlich am Leben zu halten. Als Salzgitter zum Beispiel geben wir rund um den Kirchturm jedes Jahr einen dreistelligen Millionen-Euro-Betrag aus, der explizit bei mittelständischen Unternehmen landet.“

Und es gebe noch einen Aspekt beim Thema Beschäftigung, warnt Groebler. „Stahlwerke stehen meist in strukturschwachen Regionen. Das bedeutet: Wenn dort Arbeitsplätze wegfallen, dann nimmt man einer Gegend, die eh schon gebeutelt ist, die Perspektive. Und meist sind das Regionen, in denen heute schon das demokratische Parteienspektrum extrem unter Druck ist.“ Wenn dort aber die Perspektive wegfalle, „dann habe ich zumindest eine Meinung dazu, was dann auch gesellschaftlich in diesen Regionen zumindest passieren kann“.

Drittens schließlich nennt Groebler das Thema CO₂. „Wenn ich meinen Hochofen hier schließe und stattdessen den Stahl aus zum Beispiel Indien beziehe, dann hat der indische Hochofen einen höheren CO₂-Fußabdruck als der deutsche Hochofen.“ Denn in Deutschland und Europa werde in der Regel effizienter produziert, weil der Zwang zur Optimierung seit Jahren schon extrem hoch gewesen ist. „Das heißt, wir würden CO₂ verlagern und ehrlicherweise in anderen Ländern dieser Welt eher noch erhöhen. Es kann also nicht die Lösung sein, dass wir sagen, mach mal Deutschland zu und dann geht es irgendwo anders hin.“

Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie Mittelstandsunternehmen.

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