Die Diskussion um die Juristin Brosius-Gersdorf hört nicht auf. Weiter ist unklar, ob und wann es eine Verfassungsrichterwahl geben wird. Drei Szenarien, wie es jetzt weitergehen könnte.
Szenario eins: Schnelle Wahl, pragmatische Lösung
In der Union gibt es weiter erhebliche Widerstände gegen die von der SPD nominierte Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf als neues Mitglied des Bundesverfassungsgerichts. Um die Juristin in das Amt zu wählen, braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Das heißt: Selbst wenn die Koalitionsfraktionen geschlossen für die Kandidatin stimmen, braucht es weitere Stimmen aus der Opposition. Die AfD lehnt Brosius-Gersdorf als Kandidatin ab. Reichen würden jedoch zahlenmäßig Stimmen von Grünen und Linkspartei.
Die Grünen hoffen, dass die SPD-Kandidatin an ihrer Kandidatur festhält. "Ich wünsche mir vor allen Dingen, dass die CDU/CSU sich nicht von der AfD so treiben lässt", sagte die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann im ARD-Morgenmagazin. Ihre Bundestagsfraktion fordert aus der Opposition heraus eine schnelle Wiederholung der Wahl der Verfassungsrichter, und zwar via Sondersitzung bereits am Freitag in dieser Woche. Es dürfe keine "Hängepartie bis September" geben, so Haßelmann. "Denn das Gericht nimmt Schaden. Die Frau nimmt Schaden."
"Können keine Hängepartie bis September haben", Britta Haßelmann, Fraktionsvors. B'90/Die Grünen, zum Debakel um Richterwahl
Morgenmagazin, 16.07.2025 05:30 UhrDie Linkspartei hat ebenfalls Zustimmung zur Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf signalisiert, jedoch noch keine zu einer Sondersitzung in der parlamentarischen Sommerpause. Dafür brauche es eine Einigung über die Kandidaten, so Linksparteichefin Ines Schwerdtner. Käme diese Einigung und wäre für die Fraktion akzeptabel, könnte man die Wahl eventuell schnell wiederholen.
"Wir werden sie vermutlich weiter unterstützen", Ines Schwerdtner, Vors. Linkspartei, zur Causa Brosius-Gersdorf
Morgenmagazin, 16.07.2025 05:30 UhrDiese Lösung wäre die schnellste in der verfahrenen Situation - und vermutlich die Präferenz der SPD. Sie hat sich entschieden, an ihrer Kandidatin Brosius-Gersdorf festzuhalten, wie SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil am Mittwoch unterstrich. Der Ball liege jetzt im Feld der Union.
"Wir stehen weiter uneingeschränkt hinter der Kandidatin", schreibt auch SPD-Fraktionschef Matthias Miersch in einem Brief an die Fraktion. An ihrer Eignung bestehe kein Zweifel: "Sie bringt die fachliche Kompetenz, persönliche Integrität und demokratische Haltung mit, die dieses Amt erfordert." Es gehe um die Unabhängigkeit der Justiz und das Vertrauen in die Institutionen. Er gehe davon aus, dass die Unionsführung den persönlichen Austausch mit Brosius-Gersdorf suchen wird, so Miersch.
Die vollzähligen Stimmen der Linkspartei könnten fehlende Unionsstimmen ausgleichen, jedoch dürften es dann verlässlich keinesfalls mehr als 57 Abweichler bei CDU und CSU sein. Zuletzt war aber in Medienberichten von 50 bis 60 Unions-Abgeordneten die Rede, die sich der Personalie verweigern - eine sehr riskante Rechnung.
Deshalb wackelt eine erforderliche Zweidrittelmehrheit für Brosius-Gersdorf weiter. Die SPD und die Kandidatin Brosius-Gersdorf hatten vorgeschlagen, dass sich die Kandidatin in der Unionsfraktion selbst der Kritik stellt und Vorbehalte ausräumt. Ob CDU und CSU darauf eingehen, haben sie bisher nicht geäußert.
Szenario zwei: Kandidatin zieht zurück, Richterwahl nach der Sommerpause
Unter den gegebenen Umständen ist dieses Szenario wohl durchaus wahrscheinlich: ein gesichtswahrender Rückzug. Die Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf hält zwar vorerst an ihrer Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht fest, sie schließt aber einen Rückzug trotzdem nicht gänzlich aus. Sollte dem Gericht in der Debatte um die Richterwahl Schaden drohen, würde sie sofort verzichten, sagte sie bei Markus Lanz im ZDF. "Das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten."
Das Bundesverfassungsgericht müsse in Ruhe arbeiten können und funktionsfähig bleiben. Brosius-Gersdorf betonte: "Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land, weil wir nicht wissen, was dann hinterher passiert. Das sind alles Aspekte, die nehme ich unheimlich ernst und die bedenke ich."
Andererseits steht der Vorwurf einer Verleumdungskampagne von Rechtsaußen gegen die Kandidatin im Raum, der man nicht nachgeben will. Man habe den Eindruck, dass mehr dahinterstecke als eine Ablehnung bestimmter Positionen, sagte Rechtswissenschaftler Alexander Thiele im Interview mit den tagesthemen. Es sei eher "der Versuch, einen Kulturkampf heraufzubeschwören".
Alexander Thiele, Rechtswissenschaftler, zur Kritik am Umgang mit Brosius-Gersdorf
tagesthemen, 15.07.2025 22:15 UhrBrosius-Gersdorf bringt das in ein Entscheidungsdilemma. Die Juristin sieht ebenfalls "in Teilen eine Kampagne" gegen ihre Person, in der es jetzt aber um mehr gehe - um das Land und die Demokratie.
Sie sei von Menschen aus der Bevölkerung, dem Kollegium aus der Rechtswissenschaft, von Pfarrern und Pastoren nachhaltig aufgefordert worden, gerade jetzt nicht zurückzustecken: Weil sich dann so eine Kampagne durchsetze, "und wir dann nicht wissen, was bei der nächsten Verfassungsrichterwahl passiert".
Ein Rückzug von Brosius-Gersdorf würde das Dilemma der Unionsfraktionsspitze lösen und wäre vermutlich auch Präferenz des CDU-Kanzlers Friedrich Merz. Auch wenn er noch nicht konkret die Forderung an den Koalitionspartner aufgestellt hat, die Kandidatin zurückzuziehen. Er hatte im ARD-Sommerinterview angekündigt, dass er das weitere Vorgehen in den kommenden Wochen innerhalb der schwarz-roten Koalition besprechen will.
Dann wäre Zeit, in Ruhe nach einer neuen Kandidatin zu suchen und diese nach der Sommerpause im Paket mit den anderen zu wählen. Vorgesehen ist Brosius-Gersdorf als Nachfolgerin für Verfassungsrichterin Doris König. Deren Amtszeit endete altersbedingt Ende Juni.
Allerdings ist die Stelle nicht unbesetzt, das Gericht ist weiter arbeitsfähig. Denn Richterinnen und Richter in Karlsruhe müssen auch nach ihrer Amtszeit so lange weiterarbeiten, bis ein Nachfolger gewählt ist. Wenn eine Wahl innerhalb von zwei Monaten nach der Amtszeit nicht zustande kommt, muss der Wahlausschuss des Bundestages allerdings das Bundesverfassungsgericht auffordern, selbst Vorschläge zu machen.
Solche Vorschläge hatte das Gericht im Mai bereits für die Nachfolge von Josef Christ gemacht. Dessen Amtszeit endete schon im November 2024. Doch auch er ist immer noch Richter. Auf der Vorschlagsliste stand unter anderem Günter Spinner, Richter am Bundesarbeitsgericht.
Den Vorschlag hat sich die Union zu eigen gemacht und ihn ins Rennen geschickt. Diese Wahl ist zeitlich also die drängendste. Weil das Gesetz aber keine starren Fristen kennt, wäre eine Wahl durch den Bundestag auch im September noch möglich.
Szenario drei: Bundesrat übernimmt teilweise die Wahl der Verfassungsrichter
Der Bundesrat wählt gemäß Bundesverfassungsgerichtsgesetz ohnehin die Hälfte der Richter jedes Senats. Seit vergangenem Jahr gibt es nun eine neue Regel. Die besagt, dass die Länderkammer auch eine Wahl vom Bundestag übernehmen kann, wenn dort innerhalb gewisser Fristen kein Nachfolger gewählt wird.
Von den drei zu besetzenden Stellen läuft die Frist allerdings bisher nur für die Nachfolge von Josef Christ, für den die Union Günter Spinner vorgeschlagen hat. Ab Ende August könnte der Bundesrat diese Wahl übernehmen. Es ist jedoch eine Kann-Regelung.
Das heißt: Der Bundesrat muss nicht übernehmen und würde das sicher auch nicht tun, wenn der Bundestag eine zeitnahe Wahl signalisiert. Geschaffen wurde die Möglichkeit im Übrigen, damit Fraktionen der Ränder nicht dauerhaft die Nachbesetzung von Richterstellen blockieren können, indem sie die Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit verweigern.
Wenn sie nun genutzt würde, weil sich die Regierungsfraktionen selbst nicht einigen können, könnte das auch den Bundestag als Institution in Ansehen und Handlungsfähigkeit schwächen. Daran dürften weder die Opposition noch die Regierungsfraktionen ein Interesse haben. Dieses Szenario wäre also möglich, aber nicht erwünscht von den politischen Akteuren.
Bundeskanzler Merz will diese Art von Lösung in der verfahrenen Situation um die Richterwahl deshalb vermeiden. Merz sagte zur Neuwahl der Verfassungsrichter in der ARD, er wolle "in Ruhe" in der Koalition besprechen, wie das gelöst werden könne. "Mein Wunsch wäre, dass wir im Deutschen Bundestag zu Lösungen kommen und dass wir nicht den Ersatzwahlmechanismus auslösen müssen, dass der Bundesrat die Wahl vornimmt, die eigentlich der Bundestag vornehmen müsste." Das sei "der wichtigste Wunsch", den er habe.
Für die Nachfolge von Richterin Doris König, für die Frauke Brosius-Gersdorf vorgesehen ist, würde eine Ersatzwahl durch den Bundesrat jetzt auch noch gar nicht in Frage kommen - sondern erst in vielen Monaten, vermutlich Anfang 2026. Außerdem dürfte die SPD in der Koalition nicht begeistert sein, wenn der Unionskandidat auf dem Umweg über den Bundesrat gewählt würde, den SPD-Kandidatinnen die Mehrheit hingegen weiter verweigert würde.
Lässt sich die Personalie nicht zeitnah klären, riskiert Merz einen langwierigen Konflikt nicht nur zwischen den Koalitionspartnern Union und SPD, sondern öffnet auch die Tür für fortgesetzte Hetzkampagnen gegen die Kandidatin Brosius-Gersdorf. Damit würde er auch dem Ansehen seiner gesamten Koalition schaden. Denn die Unionsfraktionsspitze hatte Zustimmung zugesagt, der zuständige Wahlausschuss im Bundestag hatte bereits mit den nötigen Stimmen der Union alle drei Kandidaten, also auch Brosius-Gersdorf, gewählt. Erst danach kam es in letzter Minute zum Gegenwind aus den Reihen der Unionsfraktion.
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