Seit gestern wirft die Bundeswehr Hilfsgüter über dem Gazastreifen ab. Außenminister Wadephul sieht darin erste Fortschritte zur Linderung der Not, doch es reiche bei Weitem nicht. Kanzler Merz will deshalb mehr Hilfe auf dem Landweg.
Während seiner Nahost-Reise hatte Bundesaußenminister Johann Wadephul überraschend deutlich das Vorgehen der israelischen Regierung kritisiert. Heute unterrichtete der CDU-Minister das Kabinett und Bundeskanzler Friedrich Merz über seine Eindrücke vor Ort. In einer Pressemitteilung nach dem Gespräch teilte die Regierung mit, sie stelle "erste, leichte Fortschritte bei der humanitären Hilfe für die Bevölkerung im Gazastreifen fest, die allerdings bei weitem nicht ausreichen, um die Notlage zu lindern."
Seit vergangener Woche kommen nach Angaben aus deutschen Sicherheitskreisen täglich 220 Lastwagen mit Hilfsgütern in das Gebiet. Zwei von drei Groß-Wasserleitungen im Gazastreifen funktionierten derzeit, sowie eine von zehn Strom-Übertragungsleitungen. Der Mehlpreis liege bei horrenden 80 Euro pro Kilogramm. Aus der Luft seien bisher 73 Tonnen an Hilfsgütern abgeworfen worden.
Diese Mengen reichen nach Einschätzung von Hilfsorganisationen bei Weitem nicht aus. Vor dem 7. Oktober 2023 kamen nach Angaben der Organisation Medico International zwischen 500 bis 600 Lastwagen täglich in den Gazastreifen. Eine Lkw-Ladung habe meist etwa 20 Tonnen Hilfsgüter umfasst. Der Bedarf dürfte durch die massive Zerstörung der Infrastruktur und landwirtschaftlichen Flächen nun deutlich höher liegen.
Bundesregierung: Israel muss Versorgung sichern
In dem Statement der Bundesregierung heißt es, Israel stehe weiter in der Pflicht, "eine umfassende Versorgung auch mit Unterstützung der Vereinten Nationen und anderer humanitärer Organisationen sicher zu stellen". Auch die militant-islamistische Terrororganisation Hamas wird in der Mitteilung kritisiert: "Gleichzeitig zeigt sich die Bundesregierung besorgt über Informationen, wonach große Mengen an Hilfsgütern von der Hamas und kriminellen Organisationen zurückgehalten werden." Die Informationen stammen offenbar aus deutschen Sicherheitskreisen. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet, dass die Experten davon ausgehen, dass 50 bis 100 Prozent der Hilfsgüter, die in den Gazastreifen gelangten, von der Hamas oder anderen kriminellen Organisationen abgezweigt würden.
Es gibt aber auch andere Einschätzungen. So konnte eine Analyse des Büros für Humanitäre Hilfe (BHA) der US-amerikanischen Behörde für Entwicklungshilfe, USAID, in 156 untersuchten Fällen keine Hinweise für eine systematische Unterschlagung von Hilfsgütern durch die Hamas finden, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Auch Israel habe bislang keine Belege für eine Unterschlagung vorlegen können, berichtete die New York Times vergangene Woche unter Berufung auf hochrangige israelische Militärbeamte. Demnach sei das Liefersystem der UN zur Versorgung der Bevölkerung Gazas mit Nahrungsmitteln weitgehend wirksam gewesen.
Merz: Hilfslieferungen über Landweg ermöglichen
Der Abwurf von Hilfsgütern über dem Gazastreifen ist keine gute Lösung, betonen Hilfsorganisationen. Der Chef des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, erklärte auf der Plattform X, diese sogenannten Airdrops würden die "sich verschlimmernde Hungersnot" nicht beenden. Sie seien "teuer, ineffizient und könnten ausgehungerte Zivilisten sogar töten". Knapp 6.000 Laster mit Hilfsgütern stünden an der Grenze bereit und warteten auf Erlaubnis, in den Gazastreifen zu fahren.
Für die Bundesregierung sind die Abwürfe offenbar eine Notlösung. Bundeskanzler Merz dankte in einem Post auf der Plattform X der Bundeswehr sowie jordanischen und europäischen Partnern und schrieb weiter: "Wir wissen: Airdops sind nur ein kleiner Beitrag, um das Leid der Menschen in Gaza zu lindern. Deshalb arbeiten wir weiter intensiv daran, Hilfe über den Landweg zu ermöglichen."
Israel hatte im März eine fast vollständige Blockade für den Gazastreifen verhängt. Seit vergangenem Sonntag lässt es Luftabwürfe zu, zudem werden täglich Lastwagen von UN- und anderen Organisationen in das abgeriegelte Küstengebiet gelassen.
Wadephul warnt vor Isolierung Israels
Wie die Bundesregierung Israel dazu bewegen will, mehr Lastwagen nach Gaza zu lassen, ist offen. Die Beziehung zu Israel gleicht derzeit offenbar einem Balanceakt. Gestern schien es, als würde die schwarz-rote Regierung nun eine deutlich schärfere Haltung gegenüber dem Verbündeten einnehmen. In den tagesthemen hatte Außenminister Wadephul von der israelischen Regierung eine "fundamentale Änderung" der Versorgung der Menschen im Gazastreifen gefordert. Die Situation dort müsse sich "fundamental verbessern" - die ganze Welt schaue darauf. Israel drohe eine weitere diplomatische Isolation. Dies könne Deutschland nicht kalt lassen.
Zugleich forderte Wadephul im Interview Katar und auch die Türkei auf, den Druck auf die Hamas zu erhöhen und sich für eine Waffenruhe zu engagieren.
Sanktionen gegen Israel für mehr Druck?
Die Rufe nach einem entschiedeneren Vorgehen gegenüber Israel werden lauter. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen plädiert für EU-Sanktionen, "wenn sich Israels Politik nicht sehr schnell ändern sollte". Dann wäre "auch Deutschland gezwungen, zusammen mit unseren Partnern konkrete Maßnahmen zu ergreifen", sagte er der Wochenzeitung Zeit. "Das bedeutet auch, Projekte und Vereinbarungen auszusetzen, die ausdrücklich das Bekenntnis zu humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen beinhalten."
Die Co-Fraktionschefin der Grünen, Katharina Dröge, forderte "einen Stopp von Waffenexporten nach Israel, die in Gaza eingesetzt werden können". Zudem seien Sanktionen gegen die rechtsextremen israelischen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir notwendig, sagte Dröge der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten. Beide riefen offen zu Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung auf, betonte die Politikerin.
Israels Armeechef: Ohne Befreiung von Geiseln werden Kämpfe weitergehen
Israel kündigte derweil an, den Krieg im Gazastreifen fortzusetzen, falls die verbliebenen israelischen Geiseln nicht bald befreit werden. Der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Eyal Zamir, sagte, er gehe davon aus, "dass wir in den kommenden Tagen erfahren werden, ob wir eine Einigung über die Freilassung unserer Geiseln erzielen können". Andernfalls werde "der Kampf ohne Unterbrechung weitergehen".
Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der militant-islamistischen Hamas unter Vermittlung der USA, Ägyptens und Katars waren im vergangenen Monat gescheitert. Noch immer werden 49 israelische Geiseln von den Islamisten festgehalten, mindestens 27 von ihnen sind nach Armeeangaben tot. Palästinensische bewaffnete Gruppen veröffentlichten diese Woche zwei Videos, die ausgehungerte und geschwächte Geiseln zeigen.
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