Vor 25 Jahren starb der Blumenhändler Enver Şimşek - erschossen vom NSU. Es war der Auftakt der Mordserie der rechtsextremen Terrorgruppe. Wie geht es den Hinterbliebenen heute?
Fast 14 Jahre blieb der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) unentdeckt. Als der NSU im November 2011 aufgedeckt wurde, erschütterte das die Republik. Denn es offenbarte ein beispielloses Versagen der Sicherheitsbehörden - aber auch der Medien und der Gesellschaft, die rechten Terror nicht als solchen erkannt und stattdessen die Opfer kriminalisiert hatten, indem sie sie etwa mit Drogenhandel und der Mafia in Verbindung brachten.
Noch viele offene Fragen
Trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse und Sonderermittler, trotz eines fünf Jahre dauernden Gerichtsprozesses seien viele Fragen zum NSU bis heute ungeklärt, sagt Semiya Şimşek-Demirtas, Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU: "Für mich ist eine wichtige Frage: Warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurden diese Opfer ausgesucht? Ich bin mir sicher, an den verschiedenen Tatorten gibt es ganz viele Mithelfer und Helfershelfer. Warum wird gegen sie nicht ermittelt?"

NSU-Morde: Enver Şimşek war das erste Opfer vor 25 Jahren
Alf Meier, BR, tagesthemen, 08.09.2025 21:45 UhrAuch für Michalina Boulgarides, Tochter von Theodoros Boulgarides, den der NSU 2005 in München ermordete, ist noch vieles ungeklärt: "Die offenen Fragen zum NSU-Komplex sind immer noch die gleichen: die Rolle des Verfassungsschutzes, die Aktenvernichtung, der Verschluss von Akten." Und ihre Schwester Mandy ergänzt: "Keine Instanz hat genug getan, um bei der Aufklärung zu helfen."
Mehr Aufklärung gefordert
Die dubios erscheinende Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex sei kaum aufgeklärt worden, ebenso wenig das Unterstützer-Netzwerk, das der NSU insbesondere an Tatorten wie Nürnberg oder München gehabt haben müsse, sagt auch Heike Kleffner. Sie ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt und kritisiert: Die wenigen NSU-Unterstützer, die doch ermittelt wurden, seien juristisch entweder gar nicht oder kaum zur Verantwortung gezogen worden. Das sei mit ein Grund dafür, dass rechter Terror nie wirklich aufgehört habe.
"Den Sicherheitsbehörden ist es nicht gelungen, den Flächenbrand rassistischer und rechtsterroristischer Gewalt erfolgreich einzudämmen", so Kleffner. Seit dem Mord an Enver Şimşek hätten Rechtsextremisten und Rassisten mehr als 200 Menschen ermordet. "Es gab die Anschläge in Hanau und Halle, das Attentat auf Walter Lübcke, das OEZ-Attentat. Und in fast allen Fällen hätten die Ermittlungsbehörden diese Attentate verhindern können."
Kleffner: Gesetzesänderungen in der Praxis kaum umgesetzt
Zwar gab es nach dem Auffliegen des NSU einige Gesetzesänderungen. So müssen Polizei und Staatsanwaltschaft seit 2015 bei Straftaten mögliche rechtsextreme oder rassistische Motive ausermitteln und Gerichte müssen solche Motive in ihren Urteilen strafverschärfend berücksichtigen. Doch all das werde in der Praxis viel zu selten umgesetzt, so Kleffner.
Eine Ermittlungsbehörde nimmt Heike Kleffner dabei ausdrücklich aus: die Bundesanwaltschaft. Sie bekam im Zuge der NSU-Affäre neue Zuständigkeiten und darf nun auch bei schweren Gewalttaten von bundesweiter Bedeutung ermitteln. So konnte die höchste deutsche Anklagebehörde zuletzt mehrere rechte Terrorgruppen ausheben, etwa die Reichsbürger um Prinz Reuß oder die Neonazi-Gruppe "Letzte Verteidigungswelle".
"Es passiert schon wieder"
Auf unteren Ebenen aber würden die Behörden extrem rechte und rassistische Motive weiterhin oft ignorieren, beklagt auch Seda Başay-Yıldız, Anwältin der Familie Şimşek. Wie schon damals bei den Morden des NSU: "Ich schließe deshalb nicht aus, dass Ähnliches wieder passiert. Und es passiert ja auch schon wieder. Als Anwältin habe ich immer wieder mit solchen Fällen zu tun."
So hat die Anwältin gerade erst Betroffene eines Brandanschlages auf ein von Migranten bewohntes Haus in Solingen vertreten. Dabei starb im vergangenen Jahr eine bulgarisch-türkische Familie, zahlreiche Menschen wurden verletzt. Der Täter wurde zwar zur Höchststrafe verurteilt, doch weder die Ermittler noch die Richter am Wuppertaler Landgericht sahen bei ihm ein rassistisches Motiv. "Dieser Fall zeigt, wie schlimm es in den staatlichen Strukturen ist", sagt Başay-Yıldız.
Erst auf Druck der Nebenklage seien Beweismittel ausgewertet worden und beim Angeklagten einschlägiges rechtsextremes Material gefunden worden. "Das Schlimme daran ist, dass es die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht interessiert hat und auch nicht das Gericht."
Die Staatsanwaltschaft argumentierte dagegen, dass bei dem Angeklagten auch eher links zu verortende Materialien entdeckt wurden. Zudem sei das digitale Leben des Angeklagten intensiv durchleuchtet worden.
Anwältin: "Haben einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft"
Der NSU entstand in den 1990er-Jahren, als Rassisten zahlreiche Anschläge auf Migranten und Geflüchtete verübten und die Regierungskoalition aus Union und FDP, unterstützt von der SPD, darauf mit einer Verschärfung des Asylrechts reagierte. Ähnlich wie heute. Nur dass es heutzutage eigentlich noch schlimmer sei, konstatiert Başay-Yıldız. "Wir haben einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, der von der Politik nicht ernst genommen wird." Auch die Bilanz von Abdulkerim Şimşek fällt bitter aus - 25 Jahre nach dem Mord an seinem Vater: "Die Zeiten sind nicht besser, sondern schlechter geworden."
Zentrales NSU-Dokumentationszentrum geplant
Immerhin scheint es in Sachen Erinnerung an den NSU vorwärtszugehen: Im Mai wurde in Chemnitz, wo das NSU-Kerntrio 1998 untertauchte, ein erstes Dokumentationszentrum eröffnet. Die Bundesregierung will zudem ein zentrales NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg einrichten - in der Stadt, in der der NSU drei Menschen ermordete und einen Bombenanschlag verübte.
"Es gibt dazu eine klare Aussage im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung: Wir schaffen ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg. Im Regierungsentwurf für den Haushalt 2026 sind über acht Millionen Euro für die Errichtung des NSU-Dokumentationszentrums enthalten", sagt Cemile Giousouf. Die CDU-Politikerin steht aktuell der Bundeszentrale für politische Bildung vor.
Die Bundeszentrale hat jüngst eine Wanderausstellung zum NSU erarbeitet und eine Machbarkeitsstudie zum geplanten Doku-Zentrum vorgelegt. Die Beschäftigung mit dem Leid, das den Hinterbliebenen und Überlebenden angetan wurde und das der Staat nicht verhindern konnte, ist der empathische Ausgangspunkt unserer Angebote."
Nürnberg sei der richtige Ort für ein NSU-Dokuzentrum, meint auch Abdulkerim Şimşek: "Es gab fünf NSU-Morde allein in Bayern. Es sollte deshalb ein Dokuzentrum in Bayern geben. Am liebsten hätte ich es in Nürnberg."
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.