Eine Meldung zur möglichen Abschaffung eines Pflegegrades in der Pflegeversicherung sorgt für Diskussionen zwischen Politik und Verbänden. Worum geht es?
"Scheindebatte", "Testballon", "Totgeburt" - es gibt im Regierungsviertel inzwischen viele Bezeichnungen für die jüngste Debatte über die Pflegeversicherung: Es geht um eine mögliche Abschaffung des Pflegegrades 1 in der Pflegeversicherung.
Weshalb sie überhaupt aufkam, bleibt unklar. Aber die Diskussion dürfte die etwa 860.000 Betroffenen und deren Angehörige verunsichern, die 2024 in diesem Pflegegrad eingestuft waren.
Klar ist, dass die Pflegeversicherung ein Defizit hat, für 2026 wird dies trotz eines Bundesdarlehens zusätzlich noch auf rund zwei Milliarden Euro beziffert - und der Pflegegrad 1 könnte laut Hochrechnung des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in etwa Ausgaben in dieser Höhe erzeugen. Streichen klingt so nach schneller Problemlösung.
Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, dass die Debatte gerade jetzt aufkommt: Denn derzeit tagt eine von der Bundesgesundheitsministerin Nina Warken beauftragte Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit dem Titel "Zukunftspakt Pflege" - in zwei Wochen soll sie erste Ergebnisse vorlegen. Zum Jahresende soll sie Eckpunkte unter anderem für eine nachhaltige Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung, eine Stärkung der ambulanten und häuslichen Pflege erarbeiten.
Am vergangenen Wochenende wurden Politiker der Regierungskoalition mit der Überlegung in der "Bild am Sonntag" zitiert, sie blieben allerdings namenlos. Es reichte für den Titel "Spar-Hammer" - die Regierung prüfe die Streichung des niedrigschwelligsten Pflegegrades. Noch am selben Tag dementierte dann der SPD-Fraktionschef Matthias Miersch im Bericht aus Berlin für seine Partei die Nachricht. Mit der SPD sei das nicht zu machen.

M. Miersch, SPD-Fraktionsvorsitzender, und C. Linnemann, CDU-Generalsekretär, zum Betrug beim Bürgergeld
Bericht aus Berlin, 28.09.2025 18:00 UhrIn der Union findet sich keiner, der offen mit Namen ausspricht, der Pflegegrad gehöre gestrichen. Von dort kommt die eher schwammige Botschaft, die Debatte dürfe keine Tabus und keine Denkverbote haben - etwa von der CDU-Gesundheitsministerin.
Doch sie äußerte sich gleichzeitig im ZDF dazu derart neutral, dass man aus ihren Worten beides herauslesen konnte, Befürwortung wie Abschaffung. Andererseits: Was soll die Ministerin auch zu diesem Zeitpunkt anderes tun, um nicht der von ihr beauftragten Arbeitsgruppe vorzugreifen, die ja erst Vorschläge erarbeiten soll.
Bis Mitte der Woche hatte sich dann zumindest CDU-Landespolitiker Karl-Josef Laumann geäußert, man müsse über eine Neuausrichtung des Pflegegrades 1 nachdenken können. Doch auch der in Nordrhein-Westfalen für das Gesundheitsressort zuständige Minister will nicht so verstanden werden, dass er direkt dessen Abschaffung fordere. Vielmehr müsse häusliche und ambulante Pflege gestärkt werden.
Unterstützung zuhause
Genau mit diesem Grundgedanken wurde der Pflegegrad 1 im Jahr 2017 eingeführt - und damals gelobt. "Es ging darum, diesen Menschen etwas anzubieten, damit sie länger zuhause bleiben können", erklärt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Da habe keiner gedacht, dass die Zahlen insgesamt heruntergehen. Denn kleinere Beeinträchtigungen wie auch psychische oder kognitive Einschränkungen wurden mit dem Pflegegrad klarer erfasst, etwa eine beginnende Demenz.
Dafür sieht der Pflegegrad Hilfsleistungen im geringen Umfang von 131 Euro monatlich vor, um den Alltag zuhause zu unterstützen, sei es durch Einkäufe oder putzen. Zusätzlich kann einmalig eine Summe von bis zu 4.180 Euro für bauliche Umbauten beantragt werden, etwa barrierefreie Zugänge für Wohnung oder Bad.
Arbeitgeberverbände halten diese Unterstützung für verzichtbar. Der Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen, Benedikt Hüppe spricht sich für die Abschaffung aus: "Der Pflegegrad 1 bringt kaum Nutzen, verursacht viel Bürokratie und ist Haupttreiber der Kostenexplosion in der Pflegeversicherung. Echte Pflegeleistungen werden dadurch nicht gesichert."
Doch es sind Argumente unterwegs, die bei näherer Betrachtung nicht stichhaltig sind: Zum einen ist die Zahl von 1,79 Milliarden Einsparpotenzial eine exemplarische Hochrechnung, erläutert Boris Augurzky, Ökonom am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung gegenüber tagesschau.de. Das hieße, dass Entlastungsbetrag und Pflegehilfsmittel in dieser exemplarischen Hochrechnung voll ausgeschöpft würden. Andere mögliche Kosten etwa aus Wohnfeldanpassungen und Verwaltungsaufwand seien nicht berücksichtigt.
Experte Rothgang geht im Gespräch mit tagesschau.de davon aus, dass rund 50 Prozent der Berechtigten überhaupt nur Leistungen abrufen. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Ausgaben auf rund 640 Millionen Euro, bestätigte der GKV-Spitzenverband gegenüber dem Magazin Spiegel. In einer Umfrage des VdK Bayern waren es nur 16,4 Prozent der Leistungsberechtigten, die etwa den Entlastungsbetrag tatsächlich bezogen.
Gründe dafür sind fehlende Informationen oder auch die mangelnde Verfügbarkeit solcher Dienstleistungen. Zudem müssen die Betroffenen in Vorleistung gehen, selbst Verträge mit Dienstleistern schließen - und es per Kostenerstattung nachträglich bei der Pflegekasse beantragen: Für Menschen mit kleiner Rente oder beginnender Demenz ein Problem, heißt es seitens der Pflegeberatungsstellen. Das sei nur mit helfenden Angehörigen zu bewerkstelligen.
"Nicht viel zu sparen in der Pflege"
Dementsprechend ist auch das "Kostentreiber"-Argument, dass manche gegen diesen Pflegegrad ins Felde führen, eher nichtzutreffend. Es zeigt sich durchaus ein Konsens quer durch die Expertenlandschaft: Pflegeversicherung muss reformiert werden, ihre Leistungen seien zu unübersichtlich. Manche nennen es auch ein Dschungel, durch den man kaum durchblickt.
Trotzdem: Rothgang sieht im Pflegebereich "nicht die große Möglichkeit zu sparen, anders als im Gesundheitssystem". Deutschland gebe im internationalen Vergleich nicht zu viel aus für Langzeitpflege.
Dietmar Kruschel, Sprecher der Pflegestützpunkte Berlin, die jährlich über 100.000 Menschen zu Pflege und Alter beraten, betont, wie wichtig gerade die Hilfen im Haushalt seien, die über den Pflegegrad 1 abgerechnet werden könnten: "Die Beratungen zu alltagsunterstützenden Leistungsangeboten dienen oft als rechtzeitiger Einstieg in präventive und niedrigschwellige Hilfe. Sie unterstützen den Erhalt der Selbstständigkeit und sind eine zentrale Entlastung für Pflegebedürftige und Angehörige."
Das vom Bundesfamilienministerium geförderte Deutsche Zentrum für Altersfragen sieht sogar die Gefahr einer Kostensteigerung: "Eine Streichung von Pflegegrad 1 hätte gravierende Folgen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen."
Entlastungsleistungen seien wichtig, damit die Pflege zu Hause gelinge. "Fallen sie weg, müssen viele Betroffene womöglich früher stationär untergebracht werden. Das wäre ungleich teurer für das Pflegesystem", heißt es in einer Stellungnahme des Bundesforschungsinstitutes.
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