Die Bundeswehr hat Personalprobleme. Um die Anforderungen der NATO zu erfüllen, braucht Deutschland mehr Soldaten. Bislang setzt Schwarz-Rot auf Freiwilligkeit, doch die Rufe nach einer Wehrpflicht werden lauter.

Spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Sicherheitslage in Europa verändert. Angesichts neuer Bedrohungen sieht die NATO großen Verbesserungsbedarf bei der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses. Um einen potenziell hochgerüsteten Angreifer wie Russland abschrecken zu können, sind neue Vorgaben an die Mitgliedsstaaten vereinbart worden. Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) benötigt allein Deutschland 50.000 bis 60.000 aktive Soldatinnen und Soldaten zusätzlich.

Vor diesem Hintergrund ist eine alte Debatte neu entbrannt: Sollte die Bundesrepublik zur Wehrpflicht zurückkehren? Vizekanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil beantwortet die Frage zwar mit Nein, der Koalitionsvertrag setze klar auf Freiwilligkeit. "Wir müssen aber jetzt schon die Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch verpflichtend eingezogen werden könnte", sagte Klingbeil der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft. "Aber es wird keine Rückkehr zur alten Wehrpflicht geben, bei der alle jungen Männer eines Jahrgangs eingezogen werden."

"Wir haben nicht die Zeit"

Kanzleramtschef Thorsten Frei dringt auf eine baldige Entscheidung darüber, ob eine Vergrößerung der Bundeswehr über Freiwilligkeit oder nur über die Rückkehr zur Wehrpflicht erreichbar ist. "Wir haben nicht die Zeit, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten", sagte der CDU-Politiker der Nachrichtenagentur dpa. Die schwarz-rote Koalition müsse eine klare Verabredung treffen, "wann wir unsere Strategie verändern müssen, damit wir das allseits für notwendig erkannte Ziel auch erreichen können".

Frei hält es für schwer vorstellbar, dass die von Pistorius angestrebten 230.000 bis 240.000 Soldaten über einen freiwilligen Wehrdienst erreicht werden können. Man müsse sich zunächst darauf verständigen, bis wann die neue Zielgröße erreicht werden soll, sagte er. "Und dann muss man sich überlegen: Wie viel Zeit können wir uns lassen, dieses Ziel auf freiwilliger Basis zu erreichen? Meine persönliche Einschätzung ist, dass wir dafür eigentlich so gut wie gar keine Zeit haben, denn die Bedrohungslage ist enorm."

Warnung vor Überforderung der Bundeswehr

Mit dem Prinzip der Freiwilligkeit sei die Lücke von 50.000 Soldaten nicht zu schließen, argumentierte auch die stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union, Ann-Cathrin Simon, im ARD-Morgenmagazin. Es gehe um die Zukunft unseres Landes und eine veränderte Bedrohungslage seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine.

Juso-Chef Philipp Türmer hielt im ARD-Morgenmagazin dagegen, die Wiedereinführung einer Wehrpflicht würde die Bundeswehr massiv überfordern. "Wir müssen die Arbeitsbedingungen bei der Bundeswehr verbessern. Da kann man auch über Anreize nachdenken", sagte der Vorsitzende der SPD-Parteijugend. Im Moment brächen 30 Prozent der Rekruten beim Heer ab, weil die Bedingungen so schlecht seien. Da müsse man zuerst ansetzen.

Kasernen und Ausbildungskapazitäten fehlen

Die schwarz-rote Koalition setzt in ihrem Koalitionsvertrag auf Freiwilligkeit. Wörtlich heißt es: "Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert."

Verteidigungsminister Pistorius rechtfertigt dieses Vorgehen: Die ausgesetzte Wehrpflicht für Männer lasse sich zwar leicht wieder in Kraft setzen, aber bis zu 300.000 Männer pro Jahrgang könne die Bundeswehr derzeit weder unterbringen noch ausbilden: "In welchen Kasernen sollen die ausgebildet werden? Wir haben die Kasernen nicht mehr, die Unterkünfte nicht mehr. Deswegen geht es darum, wir steigen mit einem Wehrdienst ein, einem erweiterten, freiwilligen, attraktiven Wehrdienst ein, und beobachten sehr genau die Lage", sagte der SPD-Politiker.

Trotz Werbekampagnen kein Wachstum

Derzeit schrumpft die Bundeswehr und wird immer älter: Seit Jahren liegt die Zahl der Soldatinnen und Soldaten um 180.000 - trotz Werbekampagnen. Um die aktuellen NATO-Vorgaben zu erfüllen, bräuchte sie rund 260.000 aktive Soldaten und bis zu 200.000 Reservisten.

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel bezweifelt, dass das nur auf freiwilliger Basis zu schaffen ist: "Die Frage ist dann immer, wie soll denn die Bundeswehr in solchen Szenarien das Land verteidigen? Und wenn die Fachleute sagen, wir können das ohne einen Wehranteil nicht, keiner redet ja über die alte Wehrpflicht, einen Pflichtanteil, ohne das geht das nicht, dann sollten wir das doch ernst nehmen."

Pistorius schließt Pflichtanteil nicht aus

Verteidigungsminister Pistorius schließt einen solchen Pflichtteil zumindest nicht aus: "Ja, ich gebe allen recht, die sagen, es müssen Vorkehrungen getroffen werden für den Zeitpunkt X, zu dem die Freiwilligen nicht mehr reichen. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren miteinander diskutieren." Bisher stehen Teile seiner Partei aber auf der Bremse. SPD-Fraktionschef Miersch hatte unlängst die Rückkehr zu einem militärischen Pflichtdienst in dieser Legislaturperiode abgelehnt.

Der Sicherheitsexperte Christian Mölling vermutet dahinter auch Parteitaktik. Er glaube, dass man zurzeit taktisch spiele und die Diskussion angesichts der anstehenden schwierigen Parteitage auf einen späteren Zeitpunkt verschieben möchte.

Wie könnte eine Pflicht umgesetzt werden?

Vor dem SPD-Parteitag Ende Juni will die Union aus Rücksicht auf den Koalitionspartner das Thema Wehrpflicht nicht überstrapazieren. Aber auch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Thomas Röwekamp (CDU), geht davon aus, dass der neue Wehrdienst verpflichtende Anteile haben muss.

Das Problem lautet dann: Wie bekommt man eine Pflicht rechtlich sauber umgesetzt? "Das wird eine Herausforderung werden, weil die gesetzliche Grundlage im Grundgesetz, die wir haben, stammt aus einer anderen Zeit", so Röwekamp. "Sie verpflichtet nur Männer ab dem 18. Lebensjahr und nicht Frauen. Und sie verpflichtet auch nur Deutsche. Und deswegen, glaube ich, werden wir schon jetzt die Debatte darüber führen müssen, dass der bestehende rechtliche Rahmen nicht die Antwort der Zukunft ist."

Mit Informationen von Uli Hauck, ARD-Hauptstadtstudio

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