Wenn es ein schlagendes Argument gegen die deutsche Leitkultur gibt, dann heißt es Vincent Gross. Seine Schlager wie „Bier“, „Rum“, „Ouzo“, „Aperol Spritz“ unterbieten mühelos die ohnehin nicht sehr hoch angesetzte Latte des deutschen Sauflieds. Aber gut, über Geschmack lässt sich nicht streiten; Schlager sind wie Austern: Manche mögen sie, andere nicht, und wer Schlager nicht mag, muss ja nicht Sendungen wie „Immer wieder sonntags“ im SWR schauen.

Dort allerdings widerfuhr Vincent Gross Böses. Seinen neuen Song „Camping“ durfte er in der Sendung nicht zu Gehör bringen, weil der Text „anzüglich“ sei. Gross war „sprachlos“, wie er der „Bild“ erzählte. Denn: „Fakt ist: Im ganzen Song ist kein einziges anzügliches Wort drin. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein wackelnder Campingwagen heute schon zu viel fürs deutsche Fernsehen ist. Ich mache Musik mit Augenzwinkern.“ Andere benutzen Instrumente, aber bitte, jeder, wie er’s mag.

Wie ist es aber mit dem Text? „Schatz, Schatz, Schatz / Du bist die Schönste hier am Campingplatz / Schatz, Schatz, Schatz / Ich hab’ in meinem Bully für dich Platz / Dann rappelt’s im Karton, digi-dong, digi-tong / Hast du Lust, zu komm’n? Digi-dong, digi-tong“ Gross hat Recht: Da ist nichts Anzügliches dran. Anzüglichkeit hat was mit Andeutungen und Doppeldeutigkeiten zu tun, hier liegt alles genauso offen zutage wie bei „Why Don’t We Do It in the Road?“ von den Beatles; allenfalls „komm’n“ ist doppeldeutig.

Dass sich ausgerechnet die Produzenten einer Sendung namens „Immer wieder sonntags“ über Anzüglichkeit echauffieren, wirkt freilich wie ein deutscher Witz. Denn die Sendung ist nach dem Erfolgsschlager von Cindy & Bert benannt, wo es heißt: „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung / Und da sind dieselben Lieder / Die wir hörten in der Sommernacht / Als Du mir das Glück gebracht.“ Es geht im Lied um ein Pärchen, das sich bei einem Griechenlandurlaub kennengelernt hat und nun immer sonntags – nur noch sonntags – zu Bouzouki-Musik Sex hat, weil die Musik die Erinnerung und damit die Begierde stimuliert.

Eigentlich ein trauriger Song, man riecht den Sonntagsbraten, hört durch das halboffene Fenster die Kinder, die zum Spielen rausgeschickt wurden, sieht, wie das Ehepaar versucht, sich einzureden, es gehe nicht um „Digi-dong“, um mit Vincent Gross zu reden, sondern um das große Glück. Jedenfalls aber ein anzüglicher und subversiver Song, an den die Sendung erinnert.

„Digi-dong, digi-tong!“

Als „Immer wieder sonntags“ herauskam, lebte ich in Dortmund und besuchte abends immer in der Nordstadt eine Arbeiterkneipe. (Warum Dortmund? Warum Arbeiterkneipe? Lange Geschichte. Ein andermal.) Es liefen dort in der Jukebox immer Schlager: der große Gunter Gabriel mit seinem gar nicht anzüglichen „Komm unter meine Decke“, Udo Jürgens mit „Griechischer Wein“, und Vicky Leandros, deren Vornamen alle in der Kneipe „Ficki“ aussprachen, mit „Die Bouzouki klang durch die Sommernacht“.

Das ist ein im besten Sinn anzüglicher Song, der vorgeblich von einer durchtanzten Nacht handelt, in Wirklichkeit die Geschichte einer deutschen Touristin in Griechenland erzählt, die sich von einem fremden Mann abschleppen lässt. Der schöne Grieche wird nie wissen, dass sie sich in ihn wirklich verliebt hat, während sie zum Flughafen fährt und in ihren Alltag mit dem pflichtmäßigen „Digi-dong“ am Sonntag – oder der blöden Anmache von irgendwelchen Campingplatz-Möchtegern-Romeos, die zu viel Ouzo getrunken und zu viel Vincent Gross gehört haben – zurückkehrt.

Übrigens verabschiedeten sich die lustigen Besucher und Besucherinnen meiner Dortmunder Kneipe nachts mit. „Tschüssi, habt einen guten Orgasmus!“ So weit war die von Hippies und Studenten losgetretene sexuelle Revolution der späten 1960er-Jahre schon ins Volk vorgedrungen.

Kurz und gut: Die Rentner und Rentnerinnen, die heute das Hauptpublikum der Öffentlich-Rechtlichen ausmachen, und von solchen Sendungen wie „Immer wieder sonntags“ schon gar, können sicher mit ein paar Anzüglichkeiten oder Nicht-Anzüglichkeiten umgehen, auch wenn sie längst dem Alter entwachsen sind, da sie im VW-Bully Sex hatten und vermutlich froh wären, wenn es wenigstens jeden Sonntag klappen würde.

Man fragt sich allerdings, ob nicht die Vincent-Gross-Freunde, die solche Songs beim Grillen oder Campen grölen nicht die gleichen Leute sind, die der Meinung sind, ihre Kinder dürften im Kindergarten nicht „sexualisiert“ werden, sprich mit der Möglichkeit konfrontiert werden, dass Sex auch etwas Anderes sein kann als Rappeln in der Kiste, „digi-dong, digi-tong“. Andere Geschichte.

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