Es war eine schicksalhafte Sommernacht im Jahr 1986, in der sich die HipHop-Kultur (mal wieder) für immer verändern sollte. Run DMC waren gerade auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, sie galten als heißeste Rapcrew der Stunde, hatten drei Millionen Platten verkauft und der noch immer skeptischen Musikindustrie damit eindrucksvoll vor Augen geführt, wie groß das kommerzielle Potenzial einer unterschätzten Subkultur tatsächlich war.
Jetzt spielten sie eine Show im überfüllten Madison Square Garden, 20.000 junge Menschen waren gekommen und gerade als die Formation ansetzten wollte, ihren Hit „My Adidas“ zu performen, hatten sie eine spontane Idee. Jeder, riefen sie, der selbst Adidas trägt, solle seinen Schuh ausziehen und ihn, während der Song gespielt wurde, in die Höhe halten. Ein Großteil der Zuschauer kam dieser Aufforderung nach, was bedeutete, dass ein Großteil der Zuschauer an diesem Abend tatsächlich Adidas-Sneaker trug.
Ein glücklicher Zufall, dass bei dieser Performance auch einige hochrangige Manager des Schuhkonzerns im Publikum standen und sofort begriffen, dass die Menschen um sie herum ihre perfekte Zielgruppe waren. Run DMC schlossen kurz darauf einen Millionendeal mit Adidas, und die dollarschwere Symbiose von Musik und Mode, die an diesem Abend begründet wurde, sollte die Blaupause nicht nur von dem Konzept des Streetwear-Marketings werden, sondern die Popkultur allgemein verändern. Und HipHop zu einer neuen kommerziellen Blüte führen.
Ein weiterer Versuch, den Ursprungsmythos der Kultur zu ergründen
Es sind Anekdoten wie diese, die in der neuen Paramount+-Serie „Hier wurde HipHop geboren“ erzählt werden, um den Ursprungsmythos der Kultur zu ergründen. HipHop hat sich aus den Hinterhöfen von New York zu einer globalen Jugendkultur entwickelt, HipHop prägt heute alles, Marken, Mode, Filme, die Gesprächsthemen auf dem Schulhof und, ja, sogar US-Präsidenten.
2023 feierte die Kultur ihren 50-jährigen Geburtstag. Selbst auf die Geburtsstunde des HipHop haben sich Kulturhistoriker mittlerweile einigen können. Es war der 11. August 1973 als DJ Herc in der Sedgwick Avenue 1520 in der New Yorker Bronx eine Party veranstaltete, auf welcher sich die DNA der Kultur herausdestillierte.
Nun gibt es tatsächlich schon zahlreiche Bücher, Podcasts, Dokumentationen, Artikel und Filme über die Entstehungsgeschichte und die Evolution dieser Kultur, die Frage ist, wofür braucht es da noch „Hier wurde HipHop geboren“? Denn die fünfteilige Doku erzählt im Grunde nur das Altbekannte. Und das wenig innovativ, wie man bei dem stumpfen Titel schon befürchten kann.
Ganz offensichtlich hat man sich weniger auf die eigentlich notwendige Frage konzentriert, wie man eine in allen Facetten bereits dokumentierte Geschichte noch einmal aus einer frischen Perspektive erzählen könnte und stattdessen den Fokus darauf gelegt, wer sie denn erzählt. Geeinigt hat man sich auf LL Cool J, der in den halbstündigen Folgen durch das Format führt.
LL Cool J ist an sich eine gute Wahl, gilt er als eine respektierte und anerkannte Old-School-Instanz, dessen eigene Geschichte interessant genug wäre, ihr eine Folge zu widmen. Stattdessen bekommt der Zuschauer von ihm aber nur einige lose Geschichten angerissen, die bedauerlicherweise nie auserzählt werden. Auch die eigentlich interessanten Gesprächspartner (Big Daddy Kane, Fat Joe, etc.) werden bloß zu Stichwortgebern degradiert. Die ganze Doku scheint, als wäre sie für ein oberflächliches MTV-Nachmittagsprogramm gemacht, aber MTV ist mittlerweile ja genauso tot, wie solche Formate es auch sein sollten.
Dennoch: Auch wenn das Konzept im Ganzen nicht aufgeht, so bleiben doch einige Details immerhin ganz spannend. Wenn etwa die Bedeutung von alternativen Fahrdiensten (Schwarze haben damals fast nie Taxis bekommen und sich entsprechend selbst organisiert) für den Vertrieb von Mixtapes dargelegt wird. Doch dann geht es auch wieder viel zu lange um Belanglosigkeiten. Eine ganze, viel zu lange Folge wird der weiblichen Avantgarde gewidmet.
Dann erzählt LL Cool J, dass er sich früher nicht gesehen gefühlt hat, dass das Einfordern von Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen in New York ein kultureller Antrieb gewesen war. „Freunde wurden erschossen und niemanden interessiert es“, fasst er es zusammen, nur um dann zu erzählen, dass die Konsequenz für ihn darin lag, immer mit dem größtmöglichen Ghettoblaster vor die Tür zu gehen. Na ja.
„Hier wurde HipHop geboren“ ist eine Doku, die nur für absolute HipHop-Nerds geeignet ist, weil diese sich zwischen den ganzen Standard-Geschichten zumindest noch einige, wenige Details herausfischen können, die von Interesse sind. Für alle anderen gilt: „HipHop Evolution“ auf Netflix schauen. Kommt besser. Lernt man mehr.
„Hier wurde HipHop geboren“ (fünf Folgen à 30 Minuten) ist auf Paramount+ verfügbar.
Dennis Sand schreibt über Popkultur und Zeitgeist, er veröffentlichte mehrere SPIEGEL-Bestseller, wie Autobiografien mit Bushido und Jan Ullrich.
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