Zwei stämmige Männer wälzen sich am Boden. Ihre Edelweisshemden sind durchnässt von Schweiss. Der Kopf des einen steckt bereits im Sägemehl. Wenig später bricht er unter dem Gewicht des Gegners zusammen. Er liegt mit dem Rücken auf dem Boden. Der Gang ist zu Ende.
Grosse Emotionen sieht man kaum, sie werden kontrolliert. Der Sieger wischt mit der Hand das Sägemehl vom Rücken des Verlierers. Danach verlassen die beiden Kolosse den Ring.

Schwingen. Das ist unser Ding. Andere Länder kennen das Ringen. Die Schweiz dagegen schwingt. Und wie! Noch nie war die Nationalsportart so populär wie heute. Jeden Sonntag finden Schwingfeste statt. Viele werden live im Fernsehen übertragen. Der krönende Abschluss bildet in diesem Jahr das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest ESAF Ende August in Glarus.
Schwingen als Gegenwelt
Der Boom des Schwingsports sagt viel über unsere Zeit aus. Das Schwingen steht für Bodenständigkeit, Tradition und Heimat. Für Ehrlichkeit und Entschleunigung. Es weckt Nostalgie und Patriotismus gleichermassen. Gefühle, die Konjunktur haben, in einer Welt voller Krisen und Veränderung, in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung.
Die kolossalen Schwinger verkörpern eine Standfestigkeit im Dasein, die wir Spätmodernen längst verloren haben und die wir uns sehnlichst zurückwünschen. Jedes Schwingfest erschafft also eine Gegenwelt, einen Ort, wo die Zeit stillgestanden ist. Mit Fahnen, Trachten, Alphörnern und einem «Muni» als Lebendpreis für den Sieger. Ein Stück Exotismus zuhause. Die Fremdheit des angeblich Ureigenen.
Nationalgefühl gesucht
Jedes Schwingfest ist ein «folkloristisches Gesamtkunstwerk», meint der Historiker Linus Schöpfer. Er hat ein Buch über die Geschichte des Schwingsports geschrieben mit dem Titel «Schwere Kerle rollen besser. Warum die Schweiz das Schwingen erfand».

Als Nationalsport erfunden wurde das Schwingen im 19. Jahrhundert, als sich die moderne Schweiz formierte. Man wollte ein Nationalgefühl erzeugen, patriotische Schwingungen zum Zwecke der Nationalstaatenbildung. Das Schwingen sollte Einheit stiften, gegen trennende Tendenzen, wie etwa Konfessionen oder den «Kantönligeist». Und gegen den Anspruch fremder Mächte.
Eine «erfundene Tradition»
Interessant ist: Es waren die Städter, die das Schwingen grossgemacht und den Sport in den Dienst der ganzen Nation gestellt haben. Mit der Begründung, das Schwingen fördere die Wehrhaftigkeit, es sei eine Schule des guten Soldaten.
Davor hatte das Schwingen einen eher schlechten Ruf. Die Raufereien erhitzten die Gemüter der Massen und es kam regelmässig zu Schlägereien. Das Schwingen galt als verrucht und war an vielen Orten verboten. Auch darum, weil es in Konkurrenz stand zum sonntäglichen Kirchgang.
Der britische Historiker Eric Hobsbawm prägte den Begriff der «invented tradition», der erfundenen Tradition. Gemeint ist eine Tradition, die mit Bedeutung versehen wird, um Identität zu stiften. Als Mittel zum Zweck. So wie der Schottenrock plötzlich zum nationalen Symbol wurde, so machte die Schweiz des späten 19. Jahrhunderts das Schwingen zur Nationalsportart.
Man habe auch andere Tätigkeiten ausprobiert, meint der Historiker Linus Schöpfer, etwa das Wettheuen, das Kugelstossen oder das Klettern. Das Schwingen hat aber am besten funktioniert, wie wir heute wissen.
Picknick der Aristokratie am Unspunnenfest
Der Eidgenössische Schwingerverband wird 1895 gegründet, unter der Initiative des Zürcher FDP-Kantonsrats Erwin Zschokke, der die Krise des Freisinns mit rückwärtsgewandtem Patriotismus überwinden wollte. Das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest wird gegründet, und das legendäre Unspunnenfest wird reaktiviert.

Bereits 1805 wurde auf der Unspunnen-Matte bei Interlaken alles vermeintlich Urschweizerische versammelt, um den Nationalismus zu stärken: Alphörner, Jodeln, Steinstossen, Schiessen, Fahnenschwingen und natürlich das Schwingen. Die Aristokratie der Schweiz und der umliegenden Länder kam zusammen, um die «edlen Wilden» aus den Bergen zu bestaunen. Linus Schöpfer spricht von einem «Picknick der europäischen Aristokratie».
Es war die Zeit des aufkommenden Tourismus, der Idealisierung der Natur und der romantischen Umdeutung der Alpen zum Sehnsuchtsort. In der wilden Natur erhoffte man sich eine Begegnung mit dem eigenen, wahren Selbst. Jean-Jacques Rousseau lässt grüssen.
Schwingende Sozialisten
Das Schwingen war von Anfang an eine politische Projektionsfläche, die von verschiedenen Seiten bespielt wurde: von den Konservativen, von den Liberalen und später, Anfang des 20. Jahrhunderts, auch von linker Seite. In der Zwischenkriegszeit fanden regelmässig sozialistische Arbeiterschwingfeste statt. Der Schwingsport sollte die Körper der Fabrikarbeiter trainieren und ein solidarisches Klassenbewusstsein wecken. Es war der Versuch, das Schwingen sozialistisch umzupolen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg versandete die linke Schwinger-Bewegung, und die Konservativen hielten die alleinige Deutungsmacht. So konnte SVP-Doyen Christoph Blocher später behaupten: «Das Eidgenössische ist für die Konservativen, was der 1. Mai für die Linken ist.» Die SP-Bundesrätin Ruth Dreyfuss dagegen wurde ausgepfiffen, als sie 1995 am Eidgenössischen Schwingfest für einen EU-Beitritt der Schweiz warb.
Mehr Kommerz, weniger Konservatismus
Heute ist das Schwingen weniger politisch. Seit der ersten Fernsehübertragung des «Eidgenössischen» im Jahr 2004 aus Luzern erlebt der Schwingsport einen steten Zulauf an Zuschauerinnen und Zuschauern. Die zunehmende Popularisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung haben den Sport ideologisch gezähmt.
Wer auf grosse Sponsoren und auf die grosse Masse zielt, der sollte politische Offenheit signalisieren. Das gelingt dem Schwingen immer besser.
Immer öfter sind auch links-grüne Städter an Schwingfesten anzutreffen. Und das ist gut so. So wie es im Sägemehl keine Gewichtsklassen gibt, so sollte es auch auf den Zuschauerrängen keine fixe politische Ausrichtung geben.
Alles gut also, wäre da nicht die Sache mit den Frauen. Es gibt sie zwar, die Schwingerinnen und die Königinnen. Sogar vierfache Königinnen wie Sonia Kälin, die 2019 aufgrund einer Knieverletzung zurücktreten musste.

Doch die meisten Schwingerinnen sind im Vergleich zu den Männern unsichtbar. Die Schwingfeste der Frauen werden nicht ausgestrahlt und finden fernab der grossen Männer-Schwingfeste statt. Warum ist das so?
1980 – die Frauen steigen in die Hosen
Damals, 1980, sah alles gut aus. Am 17. August fand das allererste Frauenschwingfest statt, in Aeschi bei Spiez. Es war ein voller Erfolg. 15'000 Zuschauerinnen und Zuschauer kamen zusammen. Ein wahres «Woodstock des Frauenschwingens», schreibt der Historiker Linus Schöpfer.

Ins Leben gerufen hat das Fest eine Frau namens Dora Hari, eine Wirtin aus dem Berner Oberland. Sie kämpfte gegen Widerstände von allen Seiten, erhielt sogar Morddrohungen. «Die Männer sagten mir, schwingende Frauen dürfe es nicht geben. Die wollten uns einfach verbieten», erinnert sich Dora Hari.
Noch heute fehlt dem Frauenschwingen die Unterstützung und der politische Support. Die Verbände gehen getrennte Wege und das Fernsehen überträgt nur das Männerschwingen. Ob sich das in Zukunft ändern wird?
Mädchen gegen Jungs
Die vierfache Schwingerkönigin Sonia Kälin sieht Hoffnung, denn seit diesem Jahr dürfen Mädchen unter zehn Jahren zusammen mit den Knaben ins Sägemehl steigen. «Das ist ein Meilenstein», findet Kälin. Auch wenn der Weg bis zur Fernsehübertragung der Frauen noch weit ist. Aber vielleicht hilft es, wenn die jungen Mädchen da und dort einen Buben aufs Kreuz legen, etwa mit einem «Schlungg».
Bei diesem Schwung zieht man den Gegner zu sich hin, fällt nach hinten weg, dreht sich aber in der Luft ab, so dass man selbst auf dem Gegner landet und dieser auf dem Rücken. Manchmal braucht es eben List, um die Mächtigen zu bodigen. Und die Männer.
Mehr Vielfalt im Schwingsport
Der Schwingsport hat noch einiges vor sich. Neben den Frauen sind auch migrantische Menschen stark untervertreten, vergleicht man das Schwingen mit anderen Sportarten wie dem Fussball.
Wir haben mit Sinisha Lüscher zwar einen Schwarzen Schwinger und mit Curdin Orlik einen homosexuellen Schwinger. Aber auch in Sachen Vielfalt ist noch Luft nach oben. Schade eigentlich. Der Zeitgeist wäre bereit. Der Schwung ist da.
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