Manchmal beginnt ja der Wahnsinn in der totalen Idylle. Der Himmel ist blau über Wotersen. „Das Erbe der Guldenburgs“ ist hier im Herzogtum Lauenburg mal gedreht worden. Fast vierzig Jahre ist das her. Ein paar Pferde könnten gern herumlaufen.
Da, wo sie vielleicht Piaffen üben den Rest des Jahres, im Reitstall, ist Schleswig-Holstein Musikfestival. Leicht knarzende Stühle stehen auf leicht knarzenden Bohlen in einer komischen Aufstellung, Stuhlreihen, nicht ausgerichtet auf die Bühne, sondern einander zugewandt. Schlafbrillen, wohl verpackt, liegen auf den Stühlen. „Trau deinen Ohren“ steht darauf.
Der sich den Wahnsinn ausgedacht hat, sitzt in der Sonne. Sommerhemd, Jeans, Brille. Kurz geschorener Schädel, schlank. Raucht und redet. Er redet schnell. Wofür andere anderthalb Stunden brauchen, schafft Omer Meir Wellber locker in der Hälfte der Zeit.
Vor drei Jahren war er Porträtkünstler des Musikfestivals. Mehr als ein Dutzend Konzerte hat er kuratieren dürfen. In Scheunen und in Sälen. Und irgendwas störte immer irgendwen. Dass man schlecht hören, vor allem schlecht sehen konnte. Dachte er sich – Demokrat, der er ist, der designierte Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper – sollen in Wotersen diesmal halt alle gar nichts sehen.
Deswegen die Schlafmasken. Jeden da sitzen lassen, das hatte er vor, jeder in seinem Raum. Musik hören und was man sonst so hört in einem Reitstall, aber vielleicht nicht unbedingt so intensiv, wie man es hört, wann man nichts sieht. Knarzen, atmen und die sonstigen Nebengeräusche des Nebenmanns.
Aber auch ganz anders Abtauchen in die Musik. Abtauchen in seinen je eigenen Erfahrungskosmos. Am Meer sein mit dem Hirn und dem Herzen beim Hören zum Beispiel. Oder in den Bergen. Oder sonst wo.
Volksoper in der Reithalle
Omer Meir Wellber hat ziemlich lange getüftelt an dem Programm. Irgendwann purzelte es dann in die richtige Reihenfolge. Eine typisch Wellber’sche vielleicht. Von der Oberfläche einer verblüffend einfachen, aber verspielten Idee in eine gewissermaßen existenzielle Tiefe.
Mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“ kommen Wellbers Streicher der Wiener Volksoper auf Socken herein, verteilen sich im Raum. Ralph Vaughan Williams’ doppelchörige „Tallis-Variationen“ spannen ihre bukolischen Flügel durch die Reithalle. Und dann stürzen die künstlich Erblindeten Wellber an seinem wandernden Akkordeon hinterher durch „Near and Far“, die wilde Fantasie des Georgiers Josef Bardanashvili.
Am Ende – in der Pause hat sich jeder, statt wortlos am Anderen vorbei zum nächsten Getränkestand zu sprinten, mit jedem Wildfremden ausgetauscht über das, was sich während der Blindheit in ihm getan hat – ist Wellber mit Astor Piazzolla unterwegs durch die Reithalle.
Hat er vorher abgefragt: Akkordeon oder kein Akkordeon, laut oder leise? Die Antwort war eindeutig. Laut und Akkordeon. Omer Meir Wellber hat mal wieder aus einer Ansammlung nicht mehr ganz junger Menschen eine verschworene, verspielte Gemeinschaft gemacht. Zauberhaft war das. Ein Zauberer ist er ja auch. Aber dazu später mehr.
Das mit dem Akkordeon muss man vielleicht erklären. Weil es einiges erklärt. Vielleicht alles von Omer Meir Wellber. 13 Kilo wiegt das Teil. Es ist – ein Kunstwerk aus Tasten und Perlmutt – eigens für Wellber in Italien gebaut worden.
Akkordeon musste man in Israel damals lernen, sagt Wellber. Oder Mandoline. Er ist in Be’er Sheva geboren und aufgewachsen. In Israels Mitte. Am Rand der Wüste Negev.
Wellber nahm das Akkordeon, das tragbare Orchester, mit dem er all die Lieder, mit denen – natürlich ist das zionistische Propaganda – eine Gemeinschaft in Israel gebildet wurde. Um die 300 Lieder als Nation Building. Lieder, auf die sich immer noch die meisten, vielleicht alle – gerade war das so beim Geburtstag von Wellbers Mutter – einigen können.
Eine kleine Geschichte am Rande, die wieder viel erklärt von dem Filouhaften, dem Spielerischen, dem Angstfreien, das Wellbers Wesen ausmacht, ist die von Padua. Da sollte es eine „Aida“ geben. Padua ist einer der italienischen Orte abseits der Metropolen (in denen er inzwischen auch überall dirigiert hat), die er liebt, in der Oper geliebt wird, wo Oper Gemeinschaft schafft.
Einer aus dem Süden
Anruf bei Wellber. Klar, er kennt die „Aida“. Klar, kann er machen. Legt auf. Sprintet zum nächstgelegenen Kulturkaufhaus. Dienstagabend war das. Er büffelt sich die Partitur ins Hirn. Am Donnerstag ist erste Probe. Ein Sensationserfolg. Wellber wird Dirigent des Jahres. Die Italiener lieben den Mann aus der Wüste. Er ist einer von ihnen. Einer aus dem Süden.
In Palermo wird er Musikdirektor. Macht aus der ganzen Stadt eine Oper. Holt die Stadt ins Teatro Massimo. Und das Teatro Massimo in die Stadt. Beweist Musiktheater als relevante Kunstform. Weil sie, das hat Wellber mit Leoluca Orlando, der Anti-Mafia-Legende, der Bürgermeister von Palermo war, ausbaldowert, ein Bollwerk für die Zivilgesellschaft, gegen Rassismus und Antisemitismus, für Queerness und eine liberale Gesellschaft sein kann.
Was sich da so in seinem Kopf abspielt, wenn er da so dirigiert, muss man sich als dauerndes Feuerwerk vorstellen. Er komponiert. Schreibt Romane, der zweite erscheint im August in Israel. Er liest ein halbes Dutzend Bücher in fast einem halben Dutzend Sprachen gleichzeitig. Russisch, erzählt er, hat er gelernt, um Pasternak im Original lesen zu können.
Gerade hat er Amos Oz’ „Geschichte von Liebe und Finsternis“ im Rucksack. Das liest er zum dritten Mal und zum ersten Mal auf Deutsch. Das alles, was andere in der Gleichzeitigkeit, in der es durch Wellbers Kopf schießt auch beim Dirigieren, in den Wahnsinn treiben würden, bildet, erzählt er in Wotersen, Netzwerke in seinem Hirn mit der Partitur auf seinem Pult.
Irgendwie hängt alles ja doch mit allem zusammen. Erweitert den Spielraum, eröffnet Perspektiven auf alles. Kann er gar nicht abstellen. Seine Freundin hat gesagt, sagt er, er soll doch mal ein bisschen ruhiger machen, wenigstens manchmal. Sie ist Yoga-Lehrerin und betreibt Shiatsu. Das könnte helfen. Eine Yoga-Matte hat er schon mal.
Was Oper heute heißt
Wenn es im September losgeht in Hamburg, wird er sie spätestens brauchen. Dann ist es mit der Ruhe erst mal vorbei. Für Hamburg und für Wellber. An der Seite des Intendanten Tobias Kratzer will er in einem Großstadtversuch herauszufinden versuchen, was Oper heute heißt. Dass Repertoire nicht Routine sein muss, sondern Abenteuer sein kann. Er will kein Museum des Klangs, sagt er, sondern einen Spielplatz, auf dem sich die besten Geschichten und Zaubertricks abspielen, die sich Wellber aus seinem Kopf, der funktioniert wie Professor Dumbledores Denkarium, gezogen hat.
Wellber, daher kommen die ganzen Magiermetaphern, hat in Israel, wenn er nicht gerade Tanzmusik bei Hochzeiten machte oder Trauermusik bei Beerdigungen, als Zauberer gearbeitet. Das schult. Man soll keinen Trick zweimal machen, erzählt er. Und dass er durchs Zaubern gelernt hat, wie man eine Geschichte erzählt.
Man muss sich das Opernhaus am Gänsemarkt jedenfalls, die Elbphilharmonie und die ganzen anderen Spielstätten, in denen Wellber Musik und Oper raus aus den Tempeln, nahe ans Volk bringen will, wie Harry Potters Zauberzelte vorstellen. Die sind unscheinbar, scheinen klein. Betritt man diese geschlossenen Räume, kommt man ins Offene, in eine ungeahnte Weite.
Da hat sich Wellber ein ganz perfides Spiel einfallen lassen. Sie wollen neue Musik spielen. Aber nicht so wie üblich. Als zehnminütigen Avantgardeausflug, von dem sich das weißmähnige Publikum, das immer noch davon überzeugt ist, dass Schönberg der philharmonische Antichrist ist, durch schmerzlindernde Dosen Tschaikowsky und Brahms wieder erholen kann.
Es gibt zehn Konzerte in der kommenden Spielzeit. Für jedes Konzert schreibt ein Komponist, eine Komponistin ein neues Stück. Ein neues Stück in einem alten.
Das geht zum Beispiel so: Der britische Pianist und Komponist Steven Hough spielt Beethovens drittes Klavierkonzert. Der Mittelsatz ist aber ein ganz anderer. Den hat Hough komponiert. Nach Wellbers Vorgaben. Etwa, dass da ein Akkord an einem bestimmten Takt stehen bleibt.
Der zentrale Stadtmusiker
Einen Dialog schaffen, ist das Ziel, ins Gespräch kommen mit der Vergangenheit. Wer den Satz vermisst, kann ihn sich im Netz anhören. Da wird er unter Leitung eines jungen Dirigenten von einem Orchester gespielt, das zur Hälfte aus Hamburger Musikstudenten besteht. Das Education-Programm der Gänsemarktoper, die erste und älteste deutsche Bürgeroper, füllt in der ziegeldicken Vorschau auf die kommende Spielzeit gefühlt ein halbes hundert Seiten. Zumindest darin ist Hamburg, so sieht es jedenfalls sein designierter zentraler Stadtmusiker, das neue Berlin.
Ob das gut geht, wird sich weisen. Wellber, der überzeugt ist, dass Musik sein kann wie das Leben, das wir eigentlich wollen und der sagt, dass er nie das Nichts, sondern immer das Mögliche sieht, Wellber wird nicht nachlassen. Wird die Fischköpfe verwirren.
Das konnte er übrigens auch schon als Kind. Mit dem Kopf seiner Mutter. Morgens um sieben ging das damals los, da am Rand der Wüste. Omer spielte in seinem Zimmer. Hämmerte, randalierte, machte infernalischen Lärm. Das ging so, bis es Zeit war fürs Abendessen. Und die Mutter, die man sich als eine unendlich geduldige Frau vorstellen muss, rief: „Danke, Omer. Danke, danke, danke.“
Das rufen sie, sagt Omer Meir Wellber, wenn sie zusammenkommen, heute immer noch. Das ist so eine Art Familienruf geworden. Hamburg, denkt man sich angesichts dessen, was Wellber noch so vorhat an Spielen an Transformationen des Klassischen, Hamburg hat in ein paar Jahren die Wahl: „Danke, Omer“, zu rufen, „danke, danke, danke.“ Um endlich Ruhe zu haben, bildungsbürgerliches Yoga zu betreiben, ohne Überraschungen, ohne Zaubertricks, Sinfonik so wie damals. Oder eine auf Jahrzehnte verzauberte Stadt zu sein, offen, unberechenbar, unruhig. Wetten dürfen angenommen werden. Sie stehen ganz gut für Omer Meir Wellber. In Winterhude jedenfalls, wo er jetzt wohnt, ist er, sagt er, schon weltberühmt.
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