Wie bleibt man über Stunden nüchtern im Club? Einfach nein sagen, würde Nancy Reagan raten. Doch dass das nicht so einfach ist, zumal, wenn einen die Nerven plagen, erlebt der DJ Kosmo bereits in den ersten Minuten hinter den schweren Türen. In seinem Fall lautet die Antwort dann: gar nicht. Ein Schnaps von der Barkeeperin führt zu einer Line Ketamin mit Freunden und später mit Fremden zu noch mehr weißem Pulver, das Kosmo für Koks hält. Ab da beginnt ein Trip durch den Club, der an Alice im Wunderland erinnert. Der DJ hat vom falschen Pilz gegessen.
Kosmo wird gespielt von Aaron Altaras, der schon in „Die Zweiflers“ einen seelengequälten Schönling mimte. Seine Rolle in „Rave On“ ist ähnlich zerrissen, auch wenn die Identitätskrise andere Ursachen hat. Er spielt einen DJ, der die Chance hatte, vor einem einflussreichen Technomusiker aufzulegen. Doch er war so nervös, dass er sich zudröhnte und den Auftritt vergeigte. Jetzt, Jahre später, will er es wiedergutmachen und seine neue Platte, Kosmo schleppt tatsächlich eine Schallplatte mit sich herum, demselben Techno-Guru von damals übergeben. Doch an den ist nicht so einfach heranzukommen.
„Rave On“ ist eine Hommage an den Club und spielt ausschließlich in diesem Raum oder auf dem Weg dorthin. Gedreht wurde in einem echten Club zwischen echten Partygästen, um das Feiern authentisch darzustellen. Das sei seit „Berlin Calling“, einem Film mit Paul Kalkbrenner, nämlich keinem deutschen Film mehr gelungen, wie Altaras im Interview mit WELT erzählte. Daher haben die Regisseure Viktor Jakovleski und Nikias Chryssos sich mit Handkameras in die Ekstase gestellt. Tatsächlich helfen das Flackern und die wackeligen Sequenzen, sich in eine Partynacht zu imaginieren. Nüchtern betrachtet ist das nicht immer angenehm fürs Auge.
Der Club als romantischer Raum
Der Authentizität des Films hilft auch die Wahl des Hauptdarstellers. Altaras ist in Berlin aufgewachsen und mit seinem Bruder auch als DJ unterwegs. Er kennt sich also im Nachtleben aus. Der Club sei für ihn ein romantischer Raum der Extreme, irgendwo zwischen Utopie und Ernüchterung. Techno eine Möglichkeit, loszulassen. Für den Schauspieler sei es ein schizophrenes Gefühl gewesen, nüchtern im Club zwischen Feiernden einen Drogentrip zu spielen.
Doch das tut er überzeugend. Sowohl, wenn Kosmo mit dümmlicher Miene einen Haufen Koks wegpustet, als auch die psychotischen Szenen, wenn sich alles dehnt und er nur noch auf dem Boden kriechen kann. Altaras spielt das so hingebungsvoll, dass man ihm gern ein Glas Wasser durch die Leinwand reichen würde.
Der Club als romantischer Raum ist für viele, gerade junge Menschen, gerade in Großstädten, eine Zuflucht. Hier werden gesellschaftliche Normen im Namen des Hedonismus ohne Scham ausgehebelt. Drogen werden zum Bindemittel zwischen Fremden, Sex vor anderen im flackernden Halbschatten kein Thema. Der Club ist heute vielleicht der letzte Ort, der an die Orgien des alten Rom oder die Entgrenzung einer höfischen Dekadenz erinnert. In einer Art Trotzreaktion kann alles, was sonst unter viel Mühe zusammengehalten wird, hier losgelassen werden. Es gibt keine verurteilende Instanz, vor der man sich erklären müsste. Vor dem DJ sind alle gleich. Das ist die eine Seite.
Die etwas weniger verklärte Seite sieht anders aus. Da endet die Gleichheit nämlich schon vor den Clubtüren, an denen die Türsteher die Geister scheiden. Wer hier heute loslassen darf, bestimmt eine willkürliche Herrscher-Elite aus Muskelmasse. Ist diese Etappe geschafft, gelten auch im inneren Kosmos die Regeln der Anpassung. Angenommen wird nur, wer sich in den gleichen Zustand wie alle anderen versetzt. Wer nicht zu den schniefenden Klorunden mitkommt oder die Pillen verschmäht, gilt mindestens als suspekt.
Was nicht ganz abwegig ist. Schließlich gehört zum befreiten Gefühl im Club, dass es niemanden gibt, der bei allen Sinnen beobachtet. Dieser Beobachtende würde sonst genau den ausgesperrten Rest der urteilenden Gesellschaft verkörpern, vor dem man hier eigentlich zu fliehen versucht. Ist der Clubbesuch am Ende also nur ein Fluchtversuch vor den anderen? Oder vor sich selbst? Und geschieht das wirklich alles nur aus Spaß, oder ist das schon Notwehr?
Das bleibt im Film so ungenau wie die Konturen der Tanzenden im bläulichen Clublicht. So existenziell machen es die Regisseure glücklicherweise auch nicht. Die drängenden Raver, die Kosmo in seinem Plan behindern, sind Freunde und Feinde zugleich. In dieser Welt haben sie recht und er ist mit seiner nüchternen Mission der Störfaktor. „Rave On“ feiert diesen Raum, ohne ihn zu verklären. Für manche ist er der Himmel, für andere bleibt er die Hölle.
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