Träge, langsam, aber stabil: So wird sie gerne charakterisiert, die direkte Demokratie. Oder wie es Harry Lime, gespielt von Orson Welles, in «The Third Man» so kongenial auf den Punkt brachte: «In Italien, in den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!»
Die Kuckucksuhr stammt zwar aus dem Schwarzwald, doch die Message ist klar: Die Schweiz funktioniert, aber sie ist langweilig. Und die Sache mit den Initiativen und Referenden kompliziert und einzigartig. Wie vermutlich alle wissen, die in der Fremde schon mal als Helvetierin oder Helvetier erkannt wurden und danach mit Angehörigen anderer Nationen über die Vor- und Nachteile des hiesigen Sonderfalls diskutieren mussten.
Gewohnt, gefragt zu werden
Wer als Schweizerin oder Schweizer geboren wird und hierzulande aufwächst, sei es gewohnt, gefragt zu werden, meint denn auch Schriftsteller Jonas Lüscher, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und mittlerweile auch Deutscher ist: «Die Bundestagswahl war gerade durch, als ich die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, und dann wurde ich von der Politik einfach jahrelang nichts gefragt. Das war ich nicht gewohnt.»
Lüscher findet die Möglichkeit, dass das Volk sich mehrmals pro Jahr zu politischen Vorlagen äussern kann, eine gute Sache: «Als 1989 die Armee-Abschaffungs-Initiative zur Abstimmung gelangte, war ich noch nicht wahlberechtigt, aber schon politisch interessiert. Und diese Initiative hat mich zum Beispiel massiv politisiert.»

Zwischen den Wahlen eine Einspruchs- oder Vetomöglichkeit zu haben, sieht auch der schweizerisch-britische Historiker Oliver Zimmer als grossen Vorteil: «Für Politiker mag das vielleicht etwas kränkend sein, da sie nicht das letzte Wort haben. Und ich sage auch nicht, dass es perfekt ist, aber es gibt eine Dialektik, eine Auseinandersetzung, die ich für sehr produktiv halte.»
Wenn es um Kuhhörner geht, gehe ich vielleicht nicht abstimmen, aber wenn es um das Verhältnis der Schweiz zu Europa geht, dann schon.
Die direkte Demokratie fördere die politische Bildung, so Zimmer weiter. Die Forschung würde dies belegen. «Viele Vorlagen sind zwar kompliziert, man muss sich da reinknien, aber die Leute sind nicht blöd.» Oft scheinen sie allerdings keine Lust oder keinen Bedarf zu haben, sich zu äussern. Die Stimmbeteiligung mäandert bei vielen Vorlagen zwischen 35 und 50 Prozent.
Zimmer findet dies aber nicht schlimm. «Als Bürger kann ich mir doch jedes Mal die Frage stellen: Ist mir dieses Anliegen wichtig? Wenn es um Kuhhörner geht, gehe ich vielleicht nicht abstimmen, aber wenn es um das Verhältnis der Schweiz zu Europa geht, dann schon.»
Problematisch werde eine tiefe Beteiligung in repräsentativen Demokratien wie Frankreich oder Deutschland. «Wenn dort die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent fallen würde, dann hätten die Abgeordneten natürlich ein Legitimationsproblem.»
Wir können von den bürokratischen Strukturen, die wir aufgebaut und finanziert haben, erwarten, dass sie mit Wucht in die Politik reingehen und unsere Probleme lösen.
Ist die Schweiz also die beste Demokratie der Welt? Aus Schweizer Sicht möge das so sein, meint Jagoda Marinić. Die deutsche Schriftstellerin und Podcasterin mit kroatischen Wurzeln hat vor 12 Jahren das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg gegründet und später geleitet. Das war gewissermassen Politik von unten. Ähnlich jener in Schweizer Städten und Gemeinden. Aber eben ohne direkte politische Macht, weil dies in Deutschland nicht vorgesehen ist.
Auf die Frage, ob sie denn nicht mal gerne eine Initiative lostreten würde, entgegnet Marinić: «Ich liebe das politische System der BRD. Wir sind Bürgerinnen. Wir können von den bürokratischen Strukturen, die wir aufgebaut und finanziert haben, erwarten, dass sie mit Wucht in die Politik reingehen und unsere Probleme lösen.»
Direkte Demokratie in Deutschland?
Der AfD reicht das nicht. Sie möchte umstrittene Parlamentsentscheide dem fakultativen Referendum unterstellen, wie es Stephan Brandner, Bundestagsabgeordneter, im Dokumentarfilm «Die beste Demokratie der Welt» erklärt: «Euro ja oder nein, Grenzen auf oder zu, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, darüber soll das Volk abstimmen können. Und das funktioniert in der Schweiz ja auch ganz wunderbar.»
Mit ihrer Forderung steht die AfD allerdings allein da. Alle anderen grossen deutschen Parteien finden die direkte Demokratie zwar interessant, aber nicht für die BRD. Deutschlands Nazi-Vergangenheit ist eines der Hauptargumente, ein anderes, das Misstrauen der Herrschenden vor dem Volk, wie Oliver Zimmer erzählt, der vor einigen Jahren auf einem Podium mit dem damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble sass.

Schäuble wurde gefragt, ob die direkte Demokratie eine gute Sache für Deutschland wäre: «Und wissen Sie, was die Antwort war: Die Deutschen haben nicht die Reife der Schweiz. Das glaubte ich nicht. Ich dachte mir: Wie ist es möglich, dass jemand sowas behauptet und in einem Saal mit 400 Leuten keiner protestiert?»
Das Initiativrecht könne schon populistisch genutzt werden, entgegnet Jonas Lüscher. Als Beispiel nennt er das Minarettverbot. «Es gab damals drei Minarette in der Schweiz. Es war jetzt nicht so, dass das irgendwie ein ganz drängendes Problem gewesen wäre.» Aber: Die Initiative wurde angenommen und der Bau von Minaretten ist seither untersagt.
Andere Länder, andere Geschichten
Ein einig Volk von Brüdern ist die Schweiz schon lange nicht mehr, dafür ist sie viel zu heterogen geworden. Aber, so sind sich zumindest Zimmer und Lüscher einig, durch die direktdemokratischen Elemente und das Prinzip der Konkordanz geniesse die Schweizer Politik eine hohe Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung.
Die Frage, ob sich ein solches System exportieren lässt, mag intellektuell ansprechend sein, realistisch beantwortbar ist sie nicht. Denn jede Nation reagiere anders auf die Herausforderungen, die sich ihr stellen.
Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn alle Länder wie die Schweiz wären.
Grossbritannien habe beispielsweise keine direktdemokratische Tradition, Abstimmungen wie jene über den Brexit oder die Unabhängigkeit Schottlands sind grosse Ausnahmen, erklärt Historiker Zimmer: «Nehmen wir das Beispiel Zweiter Weltkrieg. Damals befanden sich Grossbritannien und die Welt in einer Notsituation, sie sahen sich von einem rassistischen Kriegstreiberstaat bedroht. Ein solcher Krieg ist mit Initiativen und Referenden nicht zu gewinnen.»
So bleibt die Schweiz eben träge, langsam und stabil. Und das sei auch gut so, sagt Zimmer zum Schluss: «Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn alle Länder wie die Schweiz wären.»
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