Unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ist Astrid Lindgren der Anti-Kafka. Sie muss ein ungeheuer liebevolles Verhältnis zu ihrem Vater gehabt haben – oder eine so gewaltige Fantasie, dass sie sich eine endlose Reihe von Vätern ausdenken konnte, die sich jedes Kind wünscht.
Während bei dem Deutsch-Prager die Väter engstirnige Despoten sind, erscheinen die Erzeuger bei der Schwedin immer als liebenswürdig. Das gilt für den Piraten Ephraim Langstrumpf genauso wie für den Räuberhauptmann Mattis in „Ronja Räubertochter“. Und auch für den weisen, sozialdemokratischen Zeitungsredakteur Jonas Engström, der sich positiv von Maditas etwas snobistischer Mutter absetzt, oder für Stefan Nyman, den tiefenentspannten Papa der quirligen Lotta, der den Ausdruck „Krachmacherstraße“ geprägt hat.
Sogar Anton, der Vater von Michel aus Lönneberga, der seinen Sohn immer im Stall einsperrt, ist keine Schreckensgestalt. Man empfindet Mitleid mit ihm, der von seinem hyperaktiven, hyperbegabten Sprössling zur Verzweiflung getrieben wird.
Oft sind diese Väter hilfsbedürftig und brauchen Unterstützung von ihren Kindern – besonders, wenn es Töchter sind. Pippi muss Ephraim aus den Fängen von Blut-Svente und Messer-Jocke befreien. Ronja muss ihrem Vater helfen, seinen Groll auf den Clan der Borkaräuber zu überwinden. So ein Bedürftiger ist auch Melker Melkersson, der verwitwete Schriftsteller, der sich mit seiner Familie für „Ferien auf Saltkrokan“ einmietet. Ohne seine Tochter Malin, längst eine junge Frau mit eigenen familiären Ambitionen, wäre er wahrscheinlich längst tot, im Gefängnis oder bankrott.
„Ferien auf Saltkrokan“, der Roman, der auf der Basis eines Drehbuchs entstand, das Lindgren für die gleichnamige Fernsehserie geschrieben hat, ist das letzte grundsätzlich heitere, ganz kindliche Werk Lindgrens, bevor sie in ihrem Spätwerk etwas dunkler wurde und in Büchern wie „Ronja Räubertochter“ oder „Die Brüder Löwenherz“ auch den Tod und allerlei anderen Horror verarbeitete.
Es handelt von einer Großstadtfamilie, deren Kinder auf der kleinen Insel fast ebenso frei, unbeaufsichtigt Abenteuer erleben wie die Kinder von Bullerbü. Ferien sind auf Saltkrokan das, was sie in Kinder- und Jugendbüchern immer sein sollten: ein Vorschein des Paradieses, Wochen und Monate endloser Freiheit, in denen die Mädchen Tjorven, Stina und Pelle und der Hund Bootsmann auf der „Kräheninsel“ – so hieß sie in einer deutschen Synchronfassung – die Geduld der Erwachsenen auf die Probe stellen.
„Ferien auf der Kräheninsel“ als Fernsehserie war für deutsche Kinder, noch vor den „Pippi-Langstrumpf“-Filmen, das erste Mal, dass sie Lindgren-Figuren auf dem Bildschirm begegneten. Ab 1966 strahlte die ARD die Serie aus, dann 1971 das ZDF. Frauen, die in diesen Jahren geboren sind und Malin heißen, wissen, was ihre Eltern im Fernsehen gesehen hatten, bevor sie zur Zeugung schritten.
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