Die Juraprofessorin Elisa Hoven wurde 1982 in West-Berlin geboren, als Tochter eines Rechtsanwalts und einer Finanzamtsvorsteherin lag ein Jurastudium nahe. Heute lehrt Hoven Strafrecht an der Universität Leipzig, im Nebenamt ist sie Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Strafsachen. Ist unser Recht wirklich gerecht?“ (mit Thomas Weigend) und das Kinderbuch „Der war’s“ (mit Juli Zeh). Außerdem hat Hoven in diesem Frühjahr ihren ersten Roman herausgebracht: „Dunkle Momente“ (S. Fischer) steht in der Tradition der juristischen Fallgeschichten, die in der Literaturgeschichte seit dem „Pitaval“ ein Genre sind. Den Rahmen für Hovens Strafrechtsfälle bildet eine Ich-Erzählerin: eine Rechtsanwältin, die ihre Mandate mit ihrem Ehemann Peter diskutiert. Ein Buch, das die Rechtspraxis und ihre Grenzen mit den Mitteln der Literatur anschaulich macht.
Wie kommt es eigentlich, dass es seit Kleist („Der zerbrochne Krug“) und Kafka („Der Prozess“) so viele schriftstellernde Juristen gibt? Bernhard Schlink, Ferdinand von Schirach, Juli Zeh – und jetzt auch Elisa Hoven? Vielleicht, weil Jura ein textanalytisches Fach ist, das mit der Auslegung von Sprache hantiert. Wir sitzen in einem Eiscafé am Mexikoplatz in Berlin-Zehlendorf. Die Neigung zur Literatur sei bei ihr schon immer vorhanden gewesen, erzählt sie. Bereits als Schülerin hat sie einen Preis für Literaturkritik gewonnen – und „Das literarische Quartett“ im ZDF geschaut. Nachstehend stellt Hoven Romane vor, die entweder einen juristischen Aspekt aufweisen oder ihr eigenes Schreiben besonders geprägt haben (Protokoll: Marc Reichwein).
Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung
Das Buch, das 1926 spielt, besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil kommt eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen durch eine reiche Tante in den Genuss von Privilegien: Urlaub in einem Luxushotel. Im zweiten Teil kehrt sie in ihr eigenes bescheidenes Leben zurück, in dem sie als Postassistentin zwar mit viel Geld hantiert, aber fast nichts besitzt. Später lernt sie einen Mann kennen, der ebenfalls aus seinen ärmlichen Verhältnissen ausbrechen will. Gemeinsam unterschlagen sie ein Vermögen.
Was mich als Juristin daran fasziniert, ist die Genese des Verbrechens. Eine Frau, die zuvor keinerlei deviantes Verhalten aufweist, verspürt den Wunsch, aus ihrem früheren Leben auszubrechen. Sie begeht ein Verbrechen, weil das ihre scheinbar einzige Chance auf Glück ist. Ob es ihr auch Glück bringt, führt Zweigs Geschichte, die Fragment geblieben ist, leider nicht weiter aus. Doch ich mag die Fragen, die dieses Buch bei mir auslöst: Wie wird jemand, der sich immer normtreu verhalten hat, zum Verbrecher?
Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Anders, als viele denken, erzählen Schirachs juristische Fallgeschichten keine echten Fälle. Dennoch bleibt Schirach sehr nah an den Realitäten des Strafrechts. Wie er – in all seinen Büchern – mit wenigen Federstrichen ethisch relevante Konflikte, mit denen wir uns in der Strafrechtswissenschaft beschäftigen, für Laien anschaulich macht, ist beeindruckend.
Eine seiner Geschichten hat mich nachhaltig beschäftigt. Eine Frau wird vergewaltigt, alle Täter werden freigesprochen. Literarisch großartig gemacht, aber das Opfer bleibt passiv, bekommt kein Gesicht. Ich musste den Fall in meinem eigenen Buch „Dunkle Momente“ aufgreifen – und ihn ganz anders erzählen.
Dror Mishani: Drei
Eigentlich lese ich selbst keine Kriminalromane, aber diesen literarischen Krimi habe ich verschlungen. Der Autor ist Israeli, und seine wunderbar konstruierte Geschichte erzählt von drei Taten, die miteinander verbunden sind. Der Plot: Drei Frauen treffen auf denselben Mann. Zwei tötet er und bei der dritten – hier will ich nicht zu viel verraten – läuft es völlig anders. Gepackt hat mich das Buch vor allem wegen seiner emotionalen Brutalität, denn die ist für mich härter und intensiver als jede Folterszene in Horrorfilmen.
Albert Camus: Der Fremde
Die Hauptfigur Mersault hat einen jungen Mann erschossen. Wie kam es dazu? Und wie geht die Gesellschaft mit diesem Täter um? In meiner Lesart ist er ein Mensch, der uns fremd bleibt und deswegen Aversionen, Angst und Antipathie auslöst. Als Juristin interessiert mich, wie unterschiedlich wir mit Unrecht umgehen. Gegenüber einem Sünder, der sich reumütig bekennt und Buße tut, geben wir uns milder als gegenüber einem, der fremd bleibt.
Das Fremde ist im Strafrechtsverfahren immer etwas, das eine Rolle spielt. Je unverständlicher eine Tat bleibt, desto härter gehen wir mit ihr ins Gericht. Ich glaube, Camus’ Buch erzählt etwas über die Ambivalenz, die jeder Strafrichter einnehmen muss: Er muss das Verfahren distanziert und nüchtern führen, aber gleichzeitig versuchen, das Geschehene zu verstehen. Das deutsche Strafrecht hat sich von Urteilen über die Lebensführung von Menschen entfernt. Wir verurteilen Taten, nicht Menschen.
Alice Munro: Tricks
Es wäre vermessen, eine Nobelpreisträgerin wie Alice Munro als Vorbild für mein Schreiben zu bezeichnen, doch das Inspirierende an Munors Kurzgeschichten ist: Sämtliche Storys lesen sich wie Mini-Romane. Nach nur vier Seiten Lektüre hat man das Gefühl, dass die von Munro porträtierten Menschen wirklich existieren. Auf kurzem Raum den Eindruck eines ganzen Lebens vermitteln – und Menschen nicht mit Adjektiven, sondern in Situationen beschreiben, das kann man in „Tricks“ studieren. Für mich sind Munros Kurzgeschichten die besten, die je geschrieben wurden.
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
In diesem Roman geht es um das Erleben sexueller Gewalt. Das Opfer in Strubels Geschichte ist eine junge Frau aus Tschechien, sie wird in Deutschland vergewaltigt. Niemand glaubt ihr, niemand hilft ihr. Der Täter ist ein einflussreicher Mann. Die Geschichte regt dazu an, sich darüber Gedanken zu machen, wie man mit strukturellen Machtungleichgewichten umgeht.
Immer wieder gibt es Täter, die durch ihr soziales Umfeld geschützt sind. Die gesellschaftliche Debatte rund um das Stichwort #MeToo lenkte unsere Aufmerksamkeit auf das Problem. Auch in Strubels Buch „Der Einfluss der Fasane“ geht es um sexualisierte Gewalt an Frauen, dort aber eher im Modus einer gewitzten Mediensatire. Man staunt, wie die Autorin das gleiche Thema literarisch zweimal komplett unterschiedlich angeht – und in beiden Fällen absolut lesenswert.
Bernhard Schlink: Der Vorleser
Diesen Roman habe ich als Jugendliche, direkt bei Erscheinen, gelesen. Die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Mann und der älteren Frau hat ihre ganz eigene, faszinierende Dynamik. Für mich als Juristin ist vor allem die Frage spannend, die wir in der Strafrechtswissenschaft diskutieren: Welche individuelle Schuld tragen Täter und Mittäter an den nationalsozialistischen Verbrechen und wie können wir in juristischen Verfahren Jahrzehnte später darüber urteilen? Auf der einen Seite ist damals ein derart unvorstellbares Unrecht geschehen, dass wir die Augen vor den Taten nicht verschließen dürfen.
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, mit welchem moralischen Recht wir etwa über eine damals 19-jährige Sekretärin oder KZ-Aufseherin urteilen können, die im NS-System groß geworden ist, für die das Unrecht der Zeit Normalität war. Können wir von dieser einzelnen Person erwarten, dass sie sich gegen das System hätte stellen müssen? Verhandeln wir Auschwitz nicht letztlich auf den Schultern einer Randfigur, wenn wir sie wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord verurteilen? Das sind moralisch hochkomplexe Fragen, auf die es nicht die eine richtige Antwort gibt. Schlinks Buch adressiert sie, indem es die Frau als ambivalente Figur zeichnet, als Mensch, den man nicht als Monster abstempeln kann – obwohl sie in ein Unrechtsregime involviert war. Das Leben ist komplexer als die klare Unterscheidung in schuldig versus unschuldig.
Vladimir Nabokov: Lolita
Dieses Buch habe ich lange gemieden. Als Jugendliche sah ich Lolita vor allem als Figur der Popkultur – eine verstörende Altherrenfantasie, in der ein zwölfjähriges Mädchen einen älteren Mann verführt. Letztes Jahr habe ich Nabokovs Roman dann doch gelesen und war begeistert. Dieses Buch lässt für mich in keiner Zeile Zweifel daran, dass dieses Kind das Opfer in der Geschichte ist.
„Lolita“ ist für mich ganz eindeutig eine Missbrauchsschilderung, und zwar – das ist der literarische Kunstgriff – aus der Perspektive des Täters, der sich sein Verbrechen schönredet. In der Kriminologie sprechen wir von Neutralisierungsstrategien. Wie schafft man es, sich als Täter einzureden, dass man nichts Unrechtes getan hat? Man behauptet: Lolita hat ihn verführt, nicht er hat sie missbraucht. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, um die Untaten vor sich selbst zu rechtfertigen. „Lolita“ ist ein faszinierendes literarisches Porträt des Missbrauchs und seiner Verleugnung.
Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh ist eine sehr erfolgreich schreibende Juristin. An ihrem Roman „Unterleuten“ gefiel mir – abgesehen davon, dass es eine hervorragend lesbare Geschichte mit interessanten Charakteren ist – der Aspekt, dass man dieselben Ereignisse aus den Sichtweisen verschiedener Protagonisten erzählt bekommt. „Es gibt keine Wahrheit, sondern immer nur Perspektiven“, heißt es im Buch, und dieser Grundgedanke prägt auch das Recht. Zwar ist es das Ziel jedes Strafverfahrens, die Wahrheit zu ermitteln. Doch in der Praxis gerät man immer wieder an Grenzen, und die Wahrheit des einen ist nicht die Wahrheit des anderen. Unabhängig von der Frage, wie wir die Wahrheit finden können, ist oft fraglich, ob es sie überhaupt gibt: die eine Wahrheit. Es gibt oft zwei verschiedene Perspektiven: Sie sagt, er sagt.
Während der Corona-Pandemie wurde häufig das Motto „follow the science“ propagiert; die Menschen wollten wissen: Was ist denn jetzt richtig, was sagt die Wissenschaft? Doch auch die Wissenschaft liefert keine endgültigen Wahrheiten, sondern Annäherungen, Hypothesen, oft auch Widersprüche. Zudem spricht die Wissenschaft nicht mit einer Stimme: Rechtswissenschaft, Virologie, Soziologie – jede Disziplin beleuchtet dieselbe Wirklichkeit aus einer anderen Perspektive.
Als Gesellschaft müssen wir lernen, mit dieser Mehrdeutigkeit umzugehen und Unsicherheiten auszuhalten, anstatt nach absoluten Wahrheiten zu verlangen. Gerade im Zeitalter der künstlichen Intelligenz ist es dringlicher denn je, sich der Fragilität und Relativität von Wahrheit bewusst zu werden. Auch deshalb erscheint im Oktober mein neues Buch: „Das Ende der Wahrheit? Wie Lügen, Fake News und Framing unsere Gesellschaft bedrohen – und was wir dagegen tun müssen“.
Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss
Das „Eis-Schloss“ war sprachlich eines der schönsten Bücher, das ich je gelesen habe. Der norwegische Autor beschreibt über zig Seiten nichts anderes als Eis – und erstaunlicherweise langweilt man sich nicht! Es geht um zwei elfjährige Mädchen, die Freundschaft schließen. Eine der beiden Freundinnen hat ein Geheimnis, sie will es der Freundin noch nicht verraten. Dieses Mädchen wandert später zum Eis-Schloss – einem gefrorenen Wasserfall mit lauter Eiskammern. Wunderschön, glitzernd.
Nur wird einem bald klar: Das Mädchen wird darin sterben. Die frühe Gewissheit, dass dieses Kind sterben wird, der Kontrast zwischen Schönheit und Schmerz sind ergreifend. Bei dem Geheimnis des toten Mädchens habe ich mit meinem berufsbedingten Blick natürlich sofort an Kindesmissbrauch gedacht.
Aber wir erfahren nicht, was dem Kind passiert ist. Sein Tod bleibt eine Leerstelle. Eine Leiche wird nie gefunden, es gibt nur Trauer. Auch strafrechtlich kann es vorkommen, dass eine Person vermisst wird, erst viele Jahre später gefunden wird – oder nie. Wie geht man mit dem Verschwinden eines Menschen um? Das ist eine existenzielle Frage für alle Angehörigen.
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