Seit sie Konstantin Paustowskis Erzählung „Das Telegramm“ gelesen hatte, in der eine in der russischen Provinz verdämmernde alte Mutter vergeblich auf das Eintreffen der Tochter wartet – die zu spät kommen wird –, war Marlene Dietrich von einem Wunsch beseelt. Sie wollte den Schriftsteller Paustowski sehen. Dietrich hatte sich in der zaudernden Tochter seiner Geschichte wiedererkannt. Im Schmerz um ihre eigene Mutter, die in Deutschland verstorben war, während Marlene Dietrich im amerikanischen Exil lebte. Dietrich war seit 1939 Amerikanerin. Der „Telegramm“-Autor lebte jedoch in der Sowjetunion.

Die Genehmigung, Moskau schließlich nach langen Jahren des Anklopfens 1964 zu besuchen, dürfte der kurzen Entspannung nach der Kubakrise zu verdanken gewesen sein. Man rollte der Diva den roten Teppich überall aus, wohin sie während ihrer kleinen Tournee auch kam, die doch nur das Ziel hatte: dem damals bereits kranken, von der Nomenklatura übergangenen Paustowski (1892–1968) für sein Werk zu danken. So zumindest rekonstruiert es der schöne, 2016 auf dem Golden State Film Festival in Los Angeles prämierte Kurzfilm der kasachisch-französischen Regisseurin Anara Musrepova „L’histoire d’une photographie“, online auch bei YouTube zu finden.

Auf dem Foto, dessen Geschichte der Film erzählt, sinkt die Dietrich nach ihrem Auftritt in einem Moskauer Theater vor dem sich fassungslos zur Seite wendenden Schriftstellergreis auf die Knie. „So leuchtet es für einen Augenblick auf, aber man behält es für das ganze Leben“, heißt es einmal bei Paustowski, welcher „der versengenden, unheildrohenden Glut Transkaukasiens“ mit seinen Erzählungen vom Leben den Geruch der „Erde nach hausgekeltertem Wein“ entgegensetzte.

„Erzählungen vom Leben“ heißt der sechsbändige Memoirenzyklus Konstantin Paustowskis, der im russischen Kanon eine Sonderstellung einnimmt. Der in Kiew geborene Sohn eines ukrainischstämmigen Ingenieurs und einer Polin hatte die Veränderungen des Zarenreichs über den Ersten Weltkrieg bis zur Revolution, den „Beginn eines neuen Zeitalters“ und die „Zeit der großen Erwartungen“ stets vom Rande aus, als teilnehmender Beobachter, nie als Propagandist oder gar Opportunist, erlebt und durchlitten.

Paustowskis Ruhm

Wie durch ein Wunder kam der Freund Pasternaks und Schklowskis, der Unterstützer Solschenizyns und Tarkowskis heil durch die Jahrzehnte stalinistischen Terrors und den Zweiten Weltkrieg, ohne sich dabei zu korrumpieren oder innerlich zu zerbrechen. Stattdessen schrieb er fast wie ein Nature Writer von heute immer wieder über die den bereisten Landschaften jenseits historischer Verheerungen eingeprägte Tiefenzeit aus Erd-, Pflanzen-, Tiergeschichte: „Ich sehne mich manchmal nach einem Gesprächspartner, mit dem man ohne sich zu genieren über Dinge wie das Edelweiß oder den Geruch der Zypressenzapfen reden könnte.“

Den Nobelpreis verhinderten wohl seine schreibenden Parteigenossen, die in Stockholm für den linientreuen Scholochow trommelten. Paustowskis Ruhm, den seine Reportagen und Kurzgeschichten begründet hatten, schmälerte das kaum, in Deutschland huldigten ihm Autoren wie Hans Magnus Enzensberger – der ihn in der Anderen Bibliothek publizierte – oder Wulf Kirsten, der ihm ein wundersames Porträtgedicht widmete.

Paustowski wurde in Deutschland Ost wie West übersetzt, leider sind heute sowohl seine Memoiren als auch seine Meistererzählungen nur antiquarisch erhältlich. Doch wie sehr sein Werk berührt hat, zeigt das Beispiel Marlene Dietrich. Heute hängt das Foto ihres denkwürdigen Kniefalls in vier Paustowski-Museen; drei befinden sich in Russland, eines in der Ukraine.

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.