Wie ein Cockerspaniel in der Serengeti, so beschreibt Adam Sandler als dauergestresster Manager den Plan seines Schützlings, sich aus Selbstfindungsgründen durch Europa treiben zu lassen. George Clooney spielt sich in Noah Baumbachs „Jay Kelly“ quasi selbst beziehungsweise eine andere, selbstironischere Version seiner selbst. Ein Hollywoodstar, der sich so lange die Haare hat färben lassen, dass sich die Midlife-Crisis erst mit 60 einstellt.
Ist er wirklich nur ein leeres Gefäß, wie ihn ein alter Kollege, der ihn inbrünstig hasst, einmal nennt? Ein egomanes Arschloch wie sein Vater, der nie für ihn da war? Dazu noch eines, das die eigenen Kinder genauso vernachlässigt hat, beim ewigen Sprint nach Ruhm und Ehre? So blickt er in den Spiegel und sieht abwechselnd Cary Grant, Clark Gable und einen graumelierten Schönling mit Superman-Kinn. Wie ihm in einer der vielen Rückblenden sein alter Schauspiellehrer erklärt: „Stars müssen doppelt spielen: erstens die Rolle und zweitens sich selbst.“
Baumbach hat eine zwar seichte, doch wunderschöne Komödie gedreht, die die besten Dialoge des noch jungen Festivals aufzuweisen hat: Clooney trackt seine Tochter über die Kreditkarte einer Freundin. Die, erbost, am Telefon zu ihrer Mutter: „Du bist schlimmer als Russland!“ Und dann, nach einer genau richtig kurzen Pause: „Nein, nicht die Karte sperren!“
Das nur als kleiner Einblick in ein stündlich in Form und Inhalt explodierendes Festival, mit immer neuen Hoch- und Tiefpunkten, zu denen noch am Donnerstag der neue Lanthimos („Poor Things“) gehört. Losgegangen war es mit Paolo Sorrentinos altersmilder Nostalgieübung „La Grazia“ mit seinem alten Spezi Tony Servillo („La Grande Bellezza“). In den kommenden Tagen versucht sich Julia Roberts an ihrem Hauptrollen-Comeback in Luca Guadagninos #MeToo-Drama „After the Hunt“. Benny Safdie („Uncut Gems“) wagt einen ähnlichen Coup: In „The Smashing Machine“ lässt er „The Rock“ Dwayne Johnson die Reputationsleiter der Schauspielkunst hinaufklettern, in seiner ersten Charakterrolle als MMA-Legende Mark Kerr.
Olivier Assayas’ „The Wizard of the Kremlin“ widmet dem jungen Wladimir Putin ein heiß erwartetes Biopic – mit Jude Law als Diktator in spe. Jim Jarmusch vertraut seinem Markenzeichen und stellt eine episodenhafte Anthologie vor, „Father Mother Sister Brother“, besetzt mit Cate Blanchett, Adam Driver und – Jarmusch-Nostalgiealarm! – Tom Waits. Die koreanische Legende Park Chan-wook („Oldboy“) hat die bissige Gesellschaftssatire „No Other Choice“ im Gepäck, mit der er womöglich an den „Parasite“-Erfolg seines Kollegen Bong Joon-ho anknüpfen will. Kathryn Bigelow lässt in „A House of Dynamite“ eine Atomrakete auf die Vereinigten Staaten zurasen. Rebecca Ferguson und Idris Elba müssen gucken, wie sie damit klarkommen. Und Guillermo del Toro („Pans Labyrinth“) erfüllt sich einen lange gehegten Herzenswunsch und zeigt seine Version von „Frankenstein“. Zwei Jahrzehnte Arbeit münden dem Vernehmen nach in eine opulente Adaption – mit Oscar Isaac als Frankenstein und Jacob Elordi als Monster.
Del Toro, Bigelow und Baumbach sind übrigens alle drei von Netflix produziert, ein Rekord und weiterer Nachweis dafür, dass der Streamer alles daransetzt, nicht nur beim Massenpublikum, sondern auch bei den Oscars zu reüssieren.
Aber zurück zum Cockerspaniel in der Serengeti. Das Bild aus „Jay Kelly“ hat sich eingebrannt, weil es wie ein unwahrscheinliches Doppelbild des nur ein paar (zu wenige!) Stunden zurückliegenden Eröffnungsabends wirkt, als in der Sala Grande Francis Ford Coppola seinem Kollegen Werner Herzog („Fitzcarraldo“, „Aguirre“, „Grizzly Man“) den Ehrenlöwen fürs Lebenswerk überreichte. Anschließend lief der neue Film des oberbayerischen Urgesteins von Weltrang. Er widmet sich einer Herde Geisterelefanten im unwegsamen Hochland von Angola. Herzog hat einen seiner üblichen von einer fixen Idee besessenen Protagonisten aufgetrieben. Dr. Steve Boyes heißt der Mann, trägt jede Menge bunte Armbänder zum leutseligen Lächeln und träumt seit jeher davon, die scheuen Dickhäuter aus dem Unterholz zu scheuchen. Warum? Vorgeblich aus wissenschaftlichen Gründen: mögliche Subspezies und so weiter. In Wahrheit aber, weil er es kann, weil ein Traum nicht nur ein Traum sein darf – es sei denn, ein Traum bliebe ewig ein Traum. Das wäre vielleicht noch besser.
Frei von solchen Paradoxien ist der Film nicht gerade – und verhehlt es nicht. Das gilt auch für die spannungsreiche Wechselwirkung von Indigenen-Verklärung und Technikbegeisterung. Ja, auch die Serengeti-Buschmänner mit ihren listigen Adleraugen haben inzwischen Instagram. Trotzdem spielen sie ganz toll Primitivo-Geige auf dem Flitzebogen, wissen, peinvolle Gifte aus bösen Larven zu extrahieren, und – am wichtigsten – können von den Fußstapfen eines Elefanten auf seine Körpergröße schließen. Am Ende sammeln sie aber auch Dungproben und zupfen Haare aus der Borke, damit sie in Hightech-Zentrifugen in Stanford auf ihre genetische Struktur hin untersucht werden können.
„Ghost Elephants“ ist ein Herzog nah an der Selbstparodie: voller Verehrung für heilige Narren, Naturwunder und salbungsvoller Beobachtungen, als Voice-over eingesprochen in Herzogs kosmischem Bariton. Er hätte sich in Angola vielleicht einfach nur auf eine Lichtung stellen müssen und losreden. Die Elefanten wären dann schon von alleine gekommen, angelockt von diesem unnachahmlichen Sirenengesang. Ob er sich aber mit seinen 82 Jahren wirklich auf die Reise gemacht hat, die letzten paar Dutzend Kilometer zu Fuß, watend durch krokodilverseuchte Flüsse – eben wie, ja genau, ein Cockerspaniel in der Serengeti? Ach was, ja, bestimmt. Zumal seine Stimme beschwichtigt: „Die Krokodile kommen erst nach Einbruch der Dunkelheit.“
So ist es auch auf dem Lido. Jede Menge Pro-Palästina-Proteste sind angekündigt. Über 1500 Filmschaffende, darunter Marco Bellocchio und Ken Loach, haben sich in der Bewegung Venice4Palestine zusammengetan. Ihr Ziel: Das Festival solle endlich Farbe bekennen im Gaza-Krieg. Besonders umstritten sind die Einladungen an Gal Gadot und Gerard Butler, die in Julian Schnabels „In the Hand of Dante“ mitspielen, das außer Konkurrenz läuft. Ihnen wird zum Vorwurf gemacht, dass sie sich in der Vergangenheit klar proisraelisch geäußert haben. Gadot hat schon durchblicken lassen, sie beabsichtige, dem Festival fernzubleiben, ohne sich jedoch auf die Protestnote zu beziehen.
Zur Eröffnung flatterten vor der Sala Grande palästinensische Fahnen, eine Menge skandierte: „Free, free Palestine“ und „Stop, stop genocide“. Martina Vergnano, Sprecherin der Protestinitiative, verspricht: „Hunderte haben sich angemeldet – politische Gruppen, Künstler, auch Filmschaffende aus der Mostra selbst.“ Dazu der Plan für Samstag: eine kleine Flotte Motorboote von Marghera aus, um geschlossen am Lido aufzuschlagen. „Wir wollen den Scheinwerfer des Festivals in die richtige Richtung drehen“, sagt Vergnano.
Festivaldirektor Alberto Barbera versucht den Balanceakt. Er verweist auf die Biennale-Tradition als „Ort des Dialogs“ und führt iranische und ukrainische Beiträge als Beleg an. Im Wettbewerb kommt, weise spät in die kommende Woche gelegt, zudem „The Voice of Hind Rajab“ über ein sechsjähriges Mädchen, das tatsächlich bei einem israelischen Angriff ums Leben kam – erzählt anhand ihrer letzten Hilferufe, die wohl im Original eingespielt werden. In der Sektion Orizzonti läuft mit „Of Dogs and Men“ ein Film über die Folgen des 7. Oktober in Israel. Das ist wohl der programmatische Versuch, das Festival zu überstehen, ohne als Krokodilfutter zu enden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.