Kaum hat die Bundesregierung beschlossen, dass ab dem übernächsten Jahr alle jungen Männer für den neuen Wehrdienst gemustert werden („kriegstüchtig“), kommt in Berlin Bertolt Brechts Soldatenkomödie „Mann ist Mann“ auf die Bühne. Für die Armee wird wieder geworben! Und auch wieder gestorben? Brecht fragte sich seinerzeit, wie ein Mensch zur Kampfmaschine werden kann. Seine Antwort ist auch 100 Jahre später noch erschreckend einfach und einleuchtend, wie das Gefängnistheater AufBruch zeigt.

Obwohl AufBruch seit den Kürzungen im Berliner Haushalt in arge finanzielle Schwierigkeiten geraten ist und kaum für die Zukunft planen kann, zeigt das Team um Regisseur Peter Atanassow, Bühnenbildner Holger Syrbe und Produktionsleiterin Sibylle Arndt wieder einmal, dass man auch große Stoffe nicht scheut. „Mann ist Mann“, 1926 geschrieben, ist eine ernste Posse des noch vormarxistischen Brecht, der im typischen Sound der 1920er-Jahre zeigt, dass der Einzelne nur zählt, was er in der Masse nützt.

„Mann ist Mann“ ist ein Stück über Identitätsingenieure in Aktion. Es beginnt mit einer Szene, die heute in der Ukraine oft genug blutige Realität ist: Ein Mann geht aus dem Haus und ist plötzlich an der Front. In diesem Fall betrifft es den naiven Arbeiter Galy Gay, der nur kurz auf den Markt gehen will, um einzukaufen, und kurz darauf in den Krieg zieht, der zwar hanebüchen begründet klingt, jedoch handfesten Interessen folgt. Gays Problem? Er ist zu nett für diese Welt. Zwar kein Ja-Sager, aber ein Nicht-nein-Sager.

Die Inszenierung kontrastiert immer wieder Individuum und Gruppe, vom Kollektiv mag man kaum sprechen, da es sich erkennbar um atomisierte Einzelne handelt, die nur durch Zwang zusammengehalten werden, da können auch die poppigen „I Love War“-Shirts nicht drüber hinwegtäuschen. Jeder hier könnte so umringt werden wie Gay, der am Ende unter dem Druck kollabiert und alles macht, was von ihm verlangt wird. Eine Situation, die den meisten auf der Bühne auch aus dem Gefängnis bekannt sein dürfte.

Es fährt ein Zug nach nirgendwo

Das Ensemble besteht aus zwölf ehemaligen Gefangenen und Freigängern, dazu kommt die Schauspielerin Juliette Roussennac, die als Witwe Begbick für die Alkoholversorgung der soldatischen Männerwelt zuständig ist. Dass AufBruch einmal im Jahr nicht in der JVA Tegel oder Plötzensee inszeniert, sondern „draußen“ – hier im Freilufttheater in der Jungfernheide – unterstreicht, wie langfristig das Projekt angelegt ist. Für Straffällige ist AufBruch nicht nur während der Haft ein wichtiger Halt, sondern auch im Leben danach.

Dass man es bei AufBruch nicht mit professionellen Schauspielern zu tun hat, vergisst man ab der ersten Minute. Man merkt nämlich plötzlich, dass die Faszination des Theaters eben nicht nur von der perfekten Technik der Täuschung kommt, sondern von der lebendigen Energie, die sich übers Spiel überträgt, und von der Bedeutung, die man diesem Spiel im eigenen Leben einräumt. Bei AufBruch spürt man beides wie selten sonst, weswegen das Theater weit über Berlin hinaus als außergewöhnlich bekannt ist.

Über knapp zwei Stunden nimmt einen das Ensemble in Tarnfleck und mit Helm – die Kostüme kommen von Esther Lüchtefeld – und zwischen hölzernen Munitionskisten mit auf eine Reise, die im Stück zu den Feldzügen der britischen Armee im fernen Indien führt, aber überall spielen könnte. Dabei kommt auch der Klamauk nicht zu kurz: Neben einem falschen Elefanten und einem gefürchteten Offizier, der sich nur durch Selbstentmannung aus seiner Patriarchatskrise zu befreien weiß, gibt es orangebekittelte Mönche, die einen besoffenen Soldaten, der von seinen Kameraden nach einem Raubzug zurückgelassen wurde, als fremde Gottheit verkleiden, um abzukassieren. Mit solchen Seitenhieben gegen vermeintlich ursprüngliche Kulturen erweist sich Brecht als kritischer als das Gros der postkolonialen Kritik von heute.

Der unterhaltsame Abend zeigt gut, wie ungewöhnlich bereits die Militarismuskritik des jungen Brecht gewesen ist. Dass es in Kriegen zu Kriegsverbrechen und in Armeen zu Machtmissbrauch kommt, ist für ihn kaum skandalös – zumindest nicht im Vergleich zur Tatsache, dass die Staatenkonkurrenz ohne das nicht vorstellbar scheint. Deswegen ist „Mann ist Mann“ keines der üblichen Plädoyers für einen abstrakten Pazifismus: Wenn der Mensch nie nur selbstbestimmt ist, so muss er sich doch selbst entscheiden, wovon er bestimmt werden will. Zum Beispiel lieber von der Frau als von Staat und Armee?

Als das Ensemble mit der einbrechenden Dämmerung vom „Zug ins Nirgendwo“ singt und der Protagonist Galy Gay mitten im Tross der Soldaten sitzt, versteht man auch das Problem dieses Menschen. Er, der stets gelernt hat, sich nach den Ansprüchen seiner Mitwelt zu richten, hat nie geübt, nein zu sagen. Als es ihm dämmert, ist es bereits zu spät, da ist er eine „menschliche Kampfmaschine“ geworden und weil er die eigene Schwäche verachtet, gar die schlimmste. Drum fürchtet die netten Nicht-nein-Sager!

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