Isabel Allende meldet sich per Videoschaltung aus ihrem schlichten Arbeitszimmer in Belvedere, Kalifornien, wenige Meilen nordöstlich der Golden Gate Bridge gelegen. Vor Kurzem ist sie 83 geworden. Als Tochter eines Diplomaten flüchtete die damalige Journalistin 1975 vor der Pinochet-Diktatur zunächst nach Venezuela, später in die USA. Seit mehr als 38 Jahren lebt die Autorin des Bestsellers „Das Geisterhaus“ in der San Francisco Bay Area – US-Bürgerin ist sie seit 1993.

In ihrem neuen Roman „Mein Name ist Emilia del Valle“ (Suhrkamp) lässt Allende eine junge Frau aus Kalifornien im Jahr 1891 nach Chile reisen, um als Reporterin über den dort ausgebrochenen Bürgerkrieg zu berichten. Es ist eine Geschichte über Selbstermächtigung und Unterdrückung von Frauen, die – wie so oft in Allendes Werken – Parallelen zu ihrer eigenen Biografie aufweist. Die Kritik war durchwachsen, mal wurde der Roman für seinen sprachlichen Sog gelobt, mal der erzählerische Kitsch oder, wie in der WELT, die „lieblose Routine“ moniert. Allende selbst kümmern Rezensionen, wie sie sagt, schon lange nicht mehr. Mit 77 Millionen verkauften Büchern ist sie die erfolgreichste Schriftstellerin Lateinamerikas.

WELT: Frau Allende, seit 1993 haben Sie neben der chilenischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, Sie sind Mitglied der Demokratischen Partei. Seit Donald Trumps erneutem Wahlsieg sind die Fehler von Joe Biden und Kamala Harris im vergangenen Wahlkampf zuletzt zwar in Enthüllungsbüchern und -Artikeln beschrieben worden. Eine Strategie der Demokraten gegen Trump ist nach wie vor nicht erkennbar. Verzweifeln Sie an Ihrer Partei?

Isabel Allende: Die Partei stagniert. Das liegt auch daran, dass sie nach wie vor von vielen alten Menschen geprägt wird, die immer noch so denken wie vor 20 Jahren – in einer Welt, die sich seitdem zu stark verändert hat. Sie sind den Herausforderungen unserer Zeit nicht gewachsen. Die Partei hat es nicht geschafft, dass diese Alten zur Seite getreten sind, um Jüngeren mit neuen Ideen Platz zu machen. Was das Ganze zudem erschwert, ist, dass die politischen Institutionen an sich nicht mehr funktionieren, sie sind zerfallen. Vor diesem Hintergrund haben sich Parteien in ihrer Struktur verändert.

Wir haben es heute nicht mehr mit einer Republikanischen Partei zu tun, wie wir sie kannten. Das ist keine konservative Partei mehr. An ihre Stelle ist etwas anderes getreten, etwas, das alle Regeln gebrochen hat. Die Demokraten wirken angesichts dieser Entwicklung wie gelähmt, reagieren nicht angemessen. Ich bin Demokratin – und ich bin wütend. Ich fühle mich in der Partei überhaupt nicht mehr vertreten. Alle fünf Minuten bekomme ich von irgendeinem Kandidaten in irgendeiner obskuren Stadt eine Spendenbitte auf mein Handy geschickt. Das ist alles, was ihnen einfällt: Sie bombardieren dich mit Nachrichten, in denen sie um Geld bitten. Aber ich sehe nicht, dass sich was tut, keine Aktion.

WELT: Sie sehen keinen Hoffnungsträger in Ihrer Partei?

Allende: Es gibt Jüngere, wie Cory Booker, die sich erheben – aber es sind nicht genug und sie sind nicht stark genug. Außer zwei, drei mutigen Stimmen ist da: niemand. Als Demokratin fühle ich mich so wenig vertreten, dass ich bereit bin, die Partei zu verlassen, zu sagen: Ich wähle künftig wen auch immer. Das alles hat auch mit Angst zu tun, und damit kenne ich mich gut aus. Grundsätzlich werden Menschen in der Politik heute durch die sozialen Medien bedroht und ins Visier genommen. Im schlimmsten Fall kommt irgendein Verrückter und erschießt dich. Ich verstehe, wie Angst Gesellschaften verändert, habe das selbst erlebt.

Der US-Kongress hüllt sich inzwischen in Schweigen, er hat sich Trump gebeugt, weil er Angst hat und ihm somit all diese Macht ermöglicht. Politiker fürchten heute jedoch nicht nur, was die MAGA-Verrückten ihnen antun könnten, sie haben auch Angst davor, ihre eigene Macht zu verlieren und stellen sich deshalb gut mit Trump. Ich verstehe, wie Angst funktioniert, aber ich bin zu alt, um noch Angst zu haben. Ich bin jetzt 83. Ich sitze in einem Bus, der die letzte Halte-Station anfährt. Also: was soll’s!

WELT: Das klingt verbittert. Als jemand, der eine Diktatur erlebt hat, vor ihr fliehen musste, waren Ihnen freie Meinungsäußerung und Empathie immer wichtig. Elon Musk war es, der zuletzt sagte: Empathie sei die grundlegende Schwäche der westlichen Gesellschaften, sie sei selbstmörderisch. Diese Sichtweise prägt inzwischen nicht nur die Politik der gegenwärtigen US-Regierung …

Allende: Nein, diese Sichtweise ist inzwischen ziemlich universell. Und es ist eine sehr männliche Denkweise, sie ist patriarchalisch geprägt. Sie geht davon aus, dass man immer alles gewinnen muss. Aber so denkt und verhält sich nun mal nicht jeder. Ich meine, wären wir alle dieser Denkweise gefolgt, lebten wir noch wie in der Steinzeit und wir würden uns alle gegenseitig umbringen.

Aber gerade aus den brutalsten historischen Ereignissen ist Mitgefühl entstanden: Die Vereinten Nationen, die Erklärung der Menschenrechte – all das war als Reaktion auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs entstanden. Weil sich die Staatengemeinschaft nach diesen Schrecken sagte: „So etwas Furchtbares darf nie wieder passieren. Wir brauchen Mechanismen, um einander zu verstehen und uns gegenseitig zu helfen. Sonst gehen wir alle zugrunde.“ Die Art, wie ich und viele andere Menschen denken, ist viel nachhaltiger als die andere, die brutale Denkweise, dass man entweder alles gewinnt oder alles verliert. Aber so ist die Welt doch nicht.

WELT: Sie haben in Ihrem Leben Umstürze, viele politische Turbulenzen erlebt. Wie bleiben Sie angesichts der aktuellen Disruptionen zuversichtlich?

Allende: Ich sehe das rational, nicht emotional. Wenn man die Welt aufteilt in diejenigen, die etwas besitzen und andere, die gar nichts oder wenig besitzen – dann ist die letzte Gruppe sehr viel größer als die erste. Und früher oder später rebelliert sie. In dieser Aufteilung ist also Gewalt imminent, früher oder später explodiert sie. Nehmen Sie die Französische Revolution: Irgendwann hatten die Menschen die Nase voll von der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, der Nahrungsmittelknappheit und anderen Ungerechtigkeiten des Ständesystems. Und dann sagten sie sich: Wir sind fertig mit diesem System. Könnte etwas Ähnliches heute passieren – in einer Zeit, da einigen wenigen Tech-Milliardäre der Planet zu gehören scheint und sie tun können, was sie wollen? Denn das ist die neue Aristokratie, die Aristokratie des Geldes. Wie lange wird das noch nachhaltig sein, bis die Leute wirklich denken: Okay, wir haben genug davon?

WELT: Die Tech-Branche hofierte Trump bei dessen Amtsantritt, von Meta-Boss Mark Zuckerberg, Google CEO Sundar Pinchai, X- und Tesla-Chef Elon Musk bis zu Amazon-Gründer Jeff Bezos waren sie fast alle anwesend. Als Eigentümer der „Washington Post“ hatte Bezos seiner Zeitung zuvor vorgeschrieben, in Zukunft nur noch Meinungsartikel veröffentlichen, die bestimmte politische Präferenzen spiegeln.

Allende: Dass Menschen grundsätzlich sehr schnell ihre ethischen Werte verlieren, wenn Angst im Spiel ist, kann ich mir ja noch erklären. Aber jemand wie Jeff Bezos hat doch nichts zu befürchten. Er handelt so, weil er einfach nur immer mehr und mehr will. Und, nehmen Sie seine Hochzeit in Venedig – wie vulgär das Ganze war. Oh mein Gott.

WELT: Das „Wall Street Journal“ wurde von Trump wegen seiner Epstein-Berichterstattung auf 10 Milliarden Dollar verklagt, weil die Zeitung eine angeblich von Trump unterzeichnete sexuell anzügliche Geburtstagskarte an den verurteilten Sexualstraftäter Epstein zitierte, die Trump-kritische Stephen-Colbert-Show wird 2026 abgesetzt. Reporter von AP wurden aus dem Weißen Haus verbannt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Was macht das mit Ihnen?

Allende: Das ist erst der Anfang. Es wird noch viel mehr kommen. Ich sehe die Auswirkungen all dieser Disruptionen auch im Alltag, bei der Arbeit meiner Stiftung, die sich für in Not geratene Frauen und deren reproduktiven Rechten einsetzt. Kürzlich habe ich die Nachricht erhalten, dass einer Frau in Tennessee die Schwangerschaftsvorsorge verweigert wurde, weil sie nicht verheiratet war – dabei lebte sie 15 Jahre mit ihrem Partner zusammen. All das ist Teil einer neuen Philosophie, was diese christliche Nation künftig darstellen soll.

Inzwischen kann beispielsweise ein Arzt entscheiden, einer Trans-Person keine Krebsbehandlung zu gewähren, weil dies gegen seine Überzeugungen verstößt. Eine Krankenschwester kann sich weigern, einem Juden Blut abzunehmen – das Land spielt verrückt. Absolut verrückt. Und dann hat der US-Kongress die Streichung aller Bundesmittel für öffentlich-rechtliche Medien wie den „Public Broadcasting Service“ oder das „National Public Radio“ beschlossen. Das betrifft vor allem kleine Sender in ländlichen Regionen. Die freie Presse, die wir haben, wird also extrem herausgefordert. Es ist eine schlechte Zeit. Eine sehr schlechte Zeit. Und es wird noch viel schlimmer werden.

WELT: Um Meinungsfreiheit und freie Medien geht es am Rande auch in Ihrem neuen Roman „Mein Name ist Emilia del Valle“. Darin berichtet eine fiktive US-Reporterin mit chilenischen Wurzeln über den 1891 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Chile. Zwischen der Hauptfigur und Ihnen selbst gibt, es wie auch in anderen Büchern von Ihnen, einige Parallelen …

Allende: Nicht viele, nicht viele.

WELT: Emilia del Valle ist Journalistin, so wie Sie es vor Ihrer Schriftsteller-Karriere auch waren, als sie für das feministische Magazin „Paula“ schrieben, und Ihre Romanfigur kannte, wie auch Sie, lange Zeit ihren leiblichen Vater nicht.

Allende: Ich habe nicht an mich gedacht, als ich diese Figur erschuf. Ihr Charakter entwickelte sich erst langsam. Als ich mit dem Roman begann, wollte ich die Geschichte dieses Bürgerkriegs in Chile erzählen, aber mit einer Stimme von außen, die aus dem Ausland kommt. Die wirkliche Gemeinsamkeit zwischen uns ist in der Tat, dass sie ihren leiblichen Vater nicht kannte, so wie ich meinen Vater nicht kannte. Und sie hatte einen wunderbaren Stiefvater, so wie ich auch. Das sind aber auch schon alle Gemeinsamkeiten. Ansonsten sind wir sehr verschieden. Einige Ihrer Kollegen haben jetzt darauf gepocht, dass Emilia del Valle mein Alter Ego sei. Vielleicht ist sie das ja – aber ich selbst empfinde es nicht so.

WELT: Sie waren drei Jahre alt, als Ihr leiblicher Vater die Familie verließ und verschwand. Sie erfuhren von seinem Tod erst, als sie Jahrzehnte später in ein Leichenschauhaus gebeten wurden, um ihn zu identifizieren. Emilia Del Valle dagegen lernt ihren leiblichen Vater im Roman kennen. War das für Sie ein Moment der Katharsis, dass Sie Ihre Romanfigur etwas erleben ließen, was Ihnen selbst verwehrt geblieben war?

Allende: Eigentlich nicht. Denn ich trage keine Trauer oder ein Gefühl des Verlustes in mir, weil ich im Grunde keinen leiblichen Vater hatte. Er war so vollständig aus meinem Leben verschwunden, dass ich ihn nie wirklich vermisst habe. Ich habe deshalb kein Trauma. Ich war schon oft in Therapie. Die Therapeuten bestehen immer darauf, dass etwas in meinem Leben fehlen müsse, weil ich meinen leiblichen Vater nicht kannte. Ich widerspreche dann immer, weil ich einen liebevollen Stiefvater hatte und sage: Nein, ich empfinde das überhaupt nicht so.

Als ich die Begegnung zwischen Emilia und ihrem Vater im Roman schrieb, versetzte ich mich in ihre Lage. Als sie ihren Vater trifft, hat sie einen hasserfüllten Brief von ihrer Mutter mitgebracht. Aber sie gibt ihm den Brief nicht, sie vernichtet ihn. Und dann bleibt sie bei ihm, als er stirbt. Sie empfindet Mitgefühl für ihn – ich aber habe für meinen Vater keine Empathie empfunden. Als ich ihn tot im Leichenschauhaus sah, fühlte ich – nichts. Er war nur eine Leiche. Hätte ich meinen Vater zuvor noch einmal treffen können, als er alt und krank war und vielleicht die Fehler seines Lebens bereut hätte, hätte ich sicher Mitgefühl für ihn empfunden. Es fiel mir leicht, mich in Emilias Lage zu versetzen. Also: keine Katharsis.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.