Bei Kathryn Bigelows Venedig-Film „House of Dynamite“ tut man gut daran, sich an eine fast vergessene Episode der Weltgeschichte zu erinnern. Am 26. September 1983 erklomm Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ die Spitze der US-Hitparade. Abgesehen davon war es ein ganz normaler Tag – der allerdings um ein Haar zum letzten Tag der Menschheit geworden wäre. Die Nachtschicht im Bunker Serpuchow-15 bei Moskau in der Kommandozentrale der sowjetischen Frühwarnsatelliten hatte der Oberstleutnant Stanislaw Petrow. Kurz nach Mitternacht zeigte Petrows Computer, eine in Amerika abgefeuerte Interkontinentalrakete bewege sich auf die Sowjetunion zu; kurz darauf sah er vier weitere Raketen auf dem gleichen Kurs. Wenn Frühwarnsysteme anfliegende Raketen meldeten, bestand die Strategie der Sowjetunion im sofortigen, obligatorischen nuklearen Gegenschlag auf die Vereinigten Staaten.
Petrow hätte Meldung an seine Vorgesetzten erstatten müssen, die dann den Gegenschlag ausgelöst hätten. Er erstattete keine Meldung, sondern gebrauchte seinen Verstand: Ein amerikanischer Erstschlag musste massiv ausfallen, um so viele russische Atomraketen wie möglich auszuschalten; „nur“ fünf hätten das Sowjet-Arsenal nicht annähernd gelähmt. Petrow griff nicht zum Telefon, bald stellten sich die „Geschosse“ als nicht existent, als Fehlalarm heraus. Dank des gesunden Menschenverstandes eines Mannes war die Erde der totalen Eklipse entkommen.
Der Vorfall wurde erst 1998 bekannt. Damals war die Angst vor der nuklearen Auslöschung, welche die Menschheit seit Hiroshima beherrscht hatte, verblasst, hatte neuen Ängsten Platz gemacht, dem Terrorismus, dem finanziellen Kollaps, dem ökologischen. Das ist merkwürdig. Gibt es inzwischen nicht mehr Atommächte? Und Machthaber, denen man den roten Knopf lieber nicht in die Hand geben würde? Und taktische Atomwaffen, „Mini-Nukes“, deren Sprengkraft die der größten konventionellen Bombe übertrifft?
Kathryn Bigelows Film „House of Dynamite“ beginnt wie Stanislaw Petrows Nachtschicht: Auf einem Computerbildschirm der US-Armee erscheint eine Rakete, die anscheinend Kurs auf die Vereinigten Staaten nimmt. Anders als vor 40 Jahren Petrow ist der Entdecker nicht allein. Er sitzt mit Dutzenden Kollegen in einem großen Saal mit Hunderten Bildschirmen. Darauf: Analyseprogramme, die alles können, den Kurs des Geschosses berechnen, wann es wo einschlagen wird, die Flugbahn der Abfangrakete abbilden, welche den Eindringling noch in der Luft zerstören soll. Dies aber nicht schafft: „Wir versuchen, eine Kugel mit einer Kugel zu treffen“, sagt ein Experte achselzuckend.
Technik kann Vertrauen nicht ersetzen
In „House of Dynamite“ wimmelt es von Experten. Einer macht anfangs noch einen Scherz („Hat mal wieder ein Milliardär seinen Raketenstart nicht angemeldet“), doch bald wird die Stimmung düster. Die einen Experten können sagen, wie viele Menschen sterben werden, wenn die Bombe Chicago trifft („zehn Millionen“). Die anderen wissen, wie viele Minuten bleiben, um die eigenen Vergeltungsraketen in die Luft zu bringen („fünf Minuten“). Die nächsten kennen Details des nordkoreanischen Atomprogramms („Kim könnte ein U-Boot zum Abschuss besitzen“).
Die erste fatale Prämisse von Bigelows Planspiel lautet: Keiner der unzähligen Satelliten hat mitbekommen, wo genau die Rakete abgefeuert wurde. Keine Atommacht kann dafür haftbar gemacht und mit einem präzisen Vergeltungsakt belegt werden. Alle sind verdächtig, die Nordkoreaner, die Russen, die Chinesen (wenn man die westlichen Nuklearmächte ausschließt). Soll man diese Länder mit einem massiven Gegenschlag belegen, für alle Fälle, bevor es zu spät ist und man das selbst nicht mehr kann?
Natürlich ist das nicht mehr Petrows einsame Nachtwache. Es wimmelt von Überwachungstechnik, „situation rooms“, Notfallplänen und brillanter Kommunikationstechnik; der Präsident wird binnen Minuten an einen sicheren Ort verbracht, die Nachrichten fließen von unten nach oben in der Kommandokette, und der rote Draht von Washington nach Moskau funktioniert.
Hier zeigt sich der zweite fatale Webfehler des Systems: Alle Technik vermag fehlendes Vertrauen nicht zu ersetzen. Sollen die Amerikaner der russischen Versicherung glauben, das unbekannte Flugobjekt sei nicht von ihnen abgefeuert worden, auch nicht von einem ihrer U-Boote? Sollen die Russen glauben, die Atomraketen, die die Amerikaner über russisches Territorium Richtung Nordkorea abfeuern könnten, seien nicht doch auf russische Ziele gerichtet? Sollen sie die einfach fliegen lassen?
Bigelows Film besteht aus drei Teilen, die jeweils die letzten 30 Minuten des Countdowns schildern, vom Alarmbeginn bis zum Einschlag der Rakete. Sie beginnt auf der unteren Ebene der Federal Emergency Agency, klettert dann in die der Militärs und Politiker und landet schließlich beim Präsidenten (gespielt von Idris Elba), der die letztliche Entscheidung treffen muss: eine der Varianten aus dem Ringbuch der Zerstörung, das ein Offizier in einem Koffer ständig hinter ihm herträgt, egal wo er sich aufhält – oder soll er die Zerstörung einer der größten Städte seines Landes hinnehmen und nicht zurückschlagen gegen einen Feind, den er nicht kennt, und damit schwach erscheinen und die Zweitschlagkapazität Amerikas gefährden?
12.000 atomare Sprengköpfe
Bigelow hält sich nicht damit auf, über die 12.000 (!) atomaren Sprengköpfe zu klagen, die inzwischen in den Arsenalen der neun Atommächte lagern. Sie spekuliert nicht über die Motive und die Zurechnungsfähigkeit der Herren über die roten Knöpfe. Sie packt das System stattdessen an seinen verwundbarsten Stellen. Die eine ist seine wachsende Unübersichtlichkeit – Petrow musste nur auf einen Feind achten, die Vereinigten Staaten – heute kann die Gefahr aus vielen Richtungen kommen. Die andere ist die wachsende Schwierigkeit, den Feind überhaupt zu identifizieren; das kann bei Cyberangriffen Monate dauern und in den 30 Minuten, die die Rakete bis Chicago braucht, unmöglich sein.
Bigelows Film ist, wie all ihre Filme, ein Männerfilm. Auf der ersten Ebene hat noch eine Frau das Kommando, weiter oben sind die Männer unter sich, was durchaus seine Logik hat, ist dies doch ein von Männern entworfenes System, das auch auf sie zurückschlägt; die vielleicht schockierendste Szene ist das Ende des Verteidigungsministers. Mit dem berühmten Atomkriegsfilm „Der Tag danach“, der 1983 auf der Höhe der Nachrüstungsdiskussion von mehr als 100 Millionen Menschen weltweit gesehen wurde, hat „House of Dynamite“ vor allem eines gemeinsam: Beide Filme ließen offen, welche Seite die Krise ausgelöst hatte, es ging ihnen einzig und allein um den Wahnsinn des Wettrüstens auf beiden Seiten.
Der Wissenschaftler Carl Sagan beschrieb vor 40 Jahren das System der nuklearen Abschreckung so: „Stellen Sie sich einen Raum vor, der mit Benzin überschwemmt ist. Darin befinden sich zwei unversöhnliche Feinde. Der eine hat 9000 Streichhölzer, der andere 7000. Und beide sorgen sich, der andere könnte stärker sein.“ Der Titel von Bigelows packendem Thriller suggeriert 40 Jahre danach etwas ganz Ähnliches: dass die Menschheit in einem Haus lebt, das seine Bewohner mit Dynamit vollgestopft haben.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.