Sein Boot lag vor der Veranda an der Commercial Street in Provincetown. Outboard hochgeklappt, US-Wimpel, keine Persenning. Wenn die Flut kam, stieg die „Helene II“ fast bis auf Höhe des Terrassenbodens. Und vom tief liegenden Fenster aus war es, als bräuchte man nur ein paar Schritte zu tun, um einzusteigen.

Wozu braucht der Maler ein Boot? Manet hatte eines. Monet nicht. Renoir auch nicht. Matisse blieb lieber an Land. Picasso hat sich die Fische bringen lassen. Kann man sich Robert Motherwell mit der Angelrute in der Hand vorstellen? Kann man sich den abstrakten Maler, den Maler der Weltlosigkeit bei wassergestützter Welterfahrung denken?

Abstrakt ist das Bild, das von zeichenlosen Farben, Formen und Gesten erzählt. Der Widerschein der Leere aus dem gegenstandsentlasteten Raum zwischen Maler und Bild. Vielleicht ist ja „Meer“ nur ein anderes Wort für den leeren Raum zwischen Ich und Welt. Ein Leben lang hat Robert Motherwell, einer der ganz Großen aus der Gralsrunde des Abstrakten Expressionismus, das Meer gesucht und am Meer gelebt und nie das Meer gemalt. Was er gemalt hat, war gleichsam ein Meergefühl. Ein Sommergefühl.

Sommer 1960. Der Künstler kann von seinen Bilderverkäufen gut leben, gibt seine Lehrtätigkeit am Hunter College in New York auf, reist mit seiner Frau, der Malerin Helen Frankenthaler, durch Europa, besucht die Matisse-Kapelle im südfranzösischen Vence, mietet eine Villa im italienischen Alassio.

Nicht, dass er nun dasäße und mit spätimpressionistischem Sentiment ein paar Paradiesbewohner im Sonnensand imaginierte. Es gibt kein Fotodokument vom Atelierarbeiter im Außendienst, keinen Schnappschuss mit Strohhut und Zeichengerät in der Hand. Wenn Robert Motherwell auf den Steinen in der Bucht hockte, dann hat er zugesehen, ferngesehen, geträumt. Und der Raum zwischen Ich und Welt blieb leer. Nackt. „Eine der verblüffendsten Aspekte abstrakter Kunst und ihrer Erscheinung“, notiert er sich, „ist ihre Nacktheit, eine völlig entblößte Kunst. Wie viele Zurückweisungen vonseiten der Künstler! Ganze Welten – die Welt der Objekte, die Welt der Macht und Propaganda, die Welt der Anekdoten, die Welt der Fetische und der Ahnenverehrung.“

Also gibt es für Motherwell nur ein Mittel, die Nacktheit, die Entblößung erträglich zu machen: die Auffüllung der Leere mit Gefühl. Mit großem Gefühl. „Summertime in Italy“ nennt er die entstehenden Bilder, ein grandioses Panorama gestisch beherrschter Malerei. In der Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie hängt eines der Riesenformate, vier, fünf Quadratmeter groß, hundert Kilo schwer, auf dem Boden gemalt, um die Form flüssiger Kleckse besser kontrollieren zu können, wie Motherwell sagt. Aber auch, weil sich so die Bildfläche besser als Ganzes wahrnehmen ließe, „wenn sie zu unseren Füßen liegt und nicht durch den dreidimensionalen Raum gebrochen wird“.

Liegt das Meer zu unseren Füßen oder steht es vor uns wie das Bild an der Wand? Nicht zu entscheiden beim wässrigen Blau, dass den Grund von „Summertime in Italy“ bildet. Es ist die Meerfarbe am Morgen, wenn das Licht wie Milchschaum über dem Wasser liegt. Und eine zackige Schwarzform richtet sich wie eine Spitzhacke aus einer Schwarzbasis vor dem bläulichen Nichts auf.

Die schiere Gegenstandslosigkeit. Keinerlei Bildzeichen, keine versteckte Spur zu irgendeinem Thema. Und doch kann man gar nicht anders, als in der eruptiven Schwarzchiffre eine Welle zu sehen, die sich aufbäumt und über ihrem Kamm zusammenbricht. Und wenn der Pinsel am ausgestreckten Malarm fahrig über die Leinwand streift, dann ist es, als spritze das Wasser auf und staue sich die Gischt. Je länger die Malsession „Summertime in Italy“ dauert, desto freier und zugleich geheimnisvoller fügen sich die Mal(un)gegenstände. Beim Bild mit der Ordnungsnummer 28 ist das Blau zum Dreieck geworden, das vor der sandfarbenen Atmosphäre wie ein Schutzschild wacht.

Wohl ist es nicht ohne Risiko, die Bilder, die erklärtermaßen aller Bedeutung entflohen sind, doch wieder mit Assoziationen einzufangen. Aber man kann wohl gar nicht anders. Liegt’s an den Titeln, von denen gerade so viel Lenkung auszugehen scheint wie von Matisses „Luxe, Calme et Volupté“? Oder sind es doch Form und Farbe, die den Blick steuern – geradezu magisch in die Blickrichtung Süden?

Es gibt ihn eben nicht, den leeren Raum zwischen Ich und Welt. Robert Motherwells Werk ist gescheit genug, um daran unbeirrbar festzuhalten, dass auch das abstrakte Bild nicht ohne die Übersetzungsarbeit der Sinne auskommen wird. Auch vor einem Barnett Newman, einem Ad Reinhardt, Mark Rothko oder Jackson Pollock erzählt sich das Sehen seine eigenen Geschichten. Robert Motherwell malt bläuliche Ruhe und schwarzen Aufruhr. Wir sagen Meer und Welle dazu. Der Maler sagt „Gefühle“. Und er ist überzeugt davon, wie er 1951 schreibt, dass eine so drastische Neuerung wie die abstrakte Kunst nicht hätte entstehen können, wenn sie nicht die Folge eines unstillbaren Bedürfnisses gewesen wäre: „Das Bedürfnis nach empfundener Erfahrung – intensiv, unmittelbar, direkt, fein, einheitlich, warm, lebendig, rhythmisch.“

Wohl braucht die Erfahrungsempfindung ihren Erfahrungsort. So gesehen kann es gar nicht verwundern, dass auch der abstrakte Maler ein Leben lang immer wieder das Meer aufgesucht hat. Wie seine Kollegen aus der klassisch gewordenen Moderne, die zu einem spektakulären Teil am Meer entstanden ist. Wenn die Künstler der Stadtreize müde waren, sind sie an die Küsten gefahren, zu den Pinien am Strand, auf die Falaisen über der Steilküste, haben im Gestrüpp der vorgelagerten Berge die Sensationen des Abendhimmels notiert, saßen vor ihren Staffeleien in sandigen Buchten oder haben sie auf den Promenaden aufgeklappt. Die Koloristik der Moderne verdankt sich mediterranem Farbenspiel. Und es war wie eine Verbeugung vor der europäischen Tradition, als der amerikanische abstrakte Expressionismus das Farbenspiel in seine gegenstandslose Fantasiewelt übertrug.

Kein Schwarz mehr

Robert C. Hobbs, der amerikanische Kunsthistoriker, hat den Freund ein Leben lang begleitet. Ein Naturliebhaber sei Motherwell ja nicht gerade, hat er verraten, der einzige ihm unentbehrliche Aspekt der natürlichen Umwelt aber sei das Meer. Immer habe er in der Nähe der See gelebt. „Seine Wohnungen in Kalifornien, Oregon, Massachusetts und Connecticut haben sich alle entweder direkt am Ufer oder wenige Minuten davon entfernt befunden.“ Und sogar das ist überliefert: ein Schwarzweiß-Foto aus dem fernen Jahr 1959 vom Strand in Cape Cod – Robert Motherwell und Mark Rothko in der gut sitzenden Badehose.

Vielleicht ist ja Meer nichts weniger als eine bezwingende Metapher für eine unvergleichliche Kolossalerfahrung. Nur dort, vor oder auf dem Meer versinnlichen sich verlässlich die Träume von Weite, von Grenzenlosigkeit. Und es gehört zur inneren Logik des malerischen Werks, dass es den Traumanlass immer wieder gesucht hat, die Meer-Orte, die bei aller kontinentalen Verschiedenheit die sommerlichen Empfindungen wecken. Wenn man die malerische Entwicklung von vier, fünf Jahrzehnten überschlägt, entdeckt man geradezu eine Obsession für die Suggestionen, die sich aus dem Unendlichkeitsversprechen der Meerlandschaft gewinnen lassen.

Schon die Bildtitel verraten, wie und vor allem wo sich der Künstler hat inspirieren lassen: „Blue Air“, „The Blue Sun“ (1946), „Summertime in Italy“ (1958, 1960-62), „Beside the Sea“ (1962), „The Summer Sea“ (1970), „Summer Sea Side Doorway“ (1971), „August Sea Nr.3“ (1972), „Summer Open with Mediterranean Blue“ (1974), „Blueness of Blue“ (1974), „Dover Beach III“ (1974), „The Summer Studio“ (1977) …

So tauchen Summer, Sea und Beach und Blue in allen Werkphasen auf. Wobei der Künstler seine Stilmittel immer wieder angepasst und neue malerische Idiome erprobt hat. Von den wolkigen Schwarzformen, die die überwältigende Reihe „Elegy to the Spanish Republic“ verdüstern, führt kein unmittelbarer Weg zu den fast monochromen Monumentalbildern der „Open“-Serie. Aber wenn die gewaltigen Flächen in fein nuancierten Blautönen pulsieren, dann heißt das Bild doch gleich wieder „Sommerliche Öffnung mit Mittelmeerblau“. Und es mutet wie eine Selbsterzählung an, wie die „Summertime in Italy“-Bilder das malerische Fortschreiten dokumentieren. Von dem schwarzen Wellenschatten, der ursprünglich wie erschreckt vor dem horizontlosen Blau aufragt, ist bei der Nummer 28 nichts mehr geblieben. Alles stachlig Wildförmige hat sich in weichen Pinselschwüngen beruhigt. Und kein Schwarz mehr, nur noch weißliches Blau, sandiges Braun, von der Sonne versengtes Rot.

Zum Eindruck oder zum Gefühlsimpuls, auf den es diese Malerei abgesehen hat, tragen wohl auch die mitunter kaum überschaubaren Größen bei. Vieles in einem Bild, hat Motherwell geschrieben, ergebe sich aus dem Format, nicht etwa aus dem Sujet. Und was ihn errege, sei entweder ein winziges oder ein sehr großes Format. Nur gäbe es halt physische Schranken, was Transport und Lagerung betreffe, weshalb er sich „auf ein Maximum von fünf Meter vierzig“ beschränke.

Und so steht man vor den fünf Metern vierzig Blau. Und es ist einem in diesem Augenblick, als steige man in die „Helene II“, senke den Motor, löse die Knoten, fahre ein Stück raus und lasse sich draußen um die Ankerkette treiben. Alles blau in einer Unzahl von Blauabstufungen. Und das schwarzlinige Rechteck, das Motherwell ins Panorama eingezeichnet hat, ist nur eine kleine Hilfe, dass der Rundblick nicht im Blau ertrinkt.

Dafür braucht der Maler ein Boot. Für die Träume von nicht enden wollenden Blautönen, für die Vision schrankenloser Weite, für die Ansicht des offenen Weltwinkels, den man nur auf dem Meer so vor Augen hat. Andere imaginieren gefährliche Ausfahrten, Sturm, hohen Wellengang, aufziehendes Gewitter. Robert Motherwells Bilder illustrieren die Gefühle, die die blaue, die arkadische Stunde weckt. Und im Rückblick auf Leben und Werk war sich der Maler gänzlich sicher, dass der Triumph der abstrakten Kunst im 20. Jahrhunderts ein untrügliches Zeichen dafür sein müsse, „dass es immer noch Menschen gibt, die in der Lage sind, das Gefühl in dieser Welt zur Geltung zu bringen.“

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.