„Wir waren wie auf der Schlachtbank“, erzählt der junge Mann. In der vorigen Szene sieht man ihn auf einen Boxsack einhauen. Er hat jenen Winterabend überlebt, als ein bewaffneter Rechtsextremist in ein Café in Hanau stürmte, um alle zu töten, die seiner kranken Ideologie zufolge nicht an diesem Ort, weil nicht einmal in diesem Land sein sollten. Der Mehrfachmörder von Hanau glaubte an etwas, das es nie gegeben hat: ein deutsches Volk ohne Zugewanderte. Eine rassistische Fantasie, die er im Februar 2020 zur blutigen Realität machte. Er tötete neun Menschen, seine Mutter und sich selbst.

Der Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ zeigt nicht den Mörder und seine Familie, forscht nicht nach Ursachen und Ideologien, sondern bleibt bei den Opfern. Vier Jahre lang hat der Filmemacher Marcin Wierzchowski Familien der Ermordeten und Überlebende begleitet. Entstanden ist ein fein beobachteter, berührender Film, der in zurückhaltenden Schwarz-Weiß-Bildern vom Schmerz des Verlusts und der Suche nach öffentlicher Anerkennung für die Trauer erzählt, die das Verbrechen hinterlassen hat. Und von der Wut, mit der man nicht weiß, wohin – außer zum Boxtraining vielleicht.

„Ich war noch nie auf einer Beerdigung und plötzlich werden drei meiner Freunde beerdigt“, sagt der junge Mann, nachdem er vom Boxsack abgelassen hat. „Und ich musste auch noch sehen, wie die sterben.“ Es ist schwer vorstellbar, was das bedeutet. Wie man auch nicht fassen kann, dass die Fluchttür in dem Café versperrt war. Eine behördliche Anordnung, die Leben gekostet hat, wie nicht die Staatsanwaltschaft rekonstruierte, sondern die aus der Kunst kommende Truppe Forensic Architecture, die auch beim NSU-Komplex oder dem Tod von Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Erscheinung getreten ist.

In einer Szene sagt der verzweifelte Armin Kurtović, der Vater des ermordeten Hamza Kurtović, dass die Verantwortlichen bei einem Discobrand mit verschlossener Nottür nicht so einfach davonkommen würden. Kurtović ist einer, der unermüdlich auf eine juristische Aufklärung drängt, der die Behörden und die Politik kritisiert. Dabei ist es für die Familien schwierig genug, eine symbolische Anerkennung für ihren Verlust – beispielsweise in Form eines Denkmals – zu bekommen, wie eine Szene mit dem Bürgermeister der Stadt zeigt. Der will partout kein Denkmal auf dem Marktplatz haben, wo die Brüder Grimm verewigt sind – versehen mit dem Schriftzug „Das deutsche Volk“. Gehören für die Stadtgesellschaft die Opfer von Hanau symbolisch da nicht dazu?

Es ist ein wiederkehrendes Bild: Man sieht die Angehörigen, wie sie auf Vertreter von Stadt und Staat treffen, auf Krawatten- und Bedenkenträger, die hilflos oder abweisend erscheinen. Weil die Politik bürokratischer Verwaltung hier an ihre Grenzen gerät? Oder weil als vollwertiges Mitglied des demokratischen Souveräns, des Volkes, nur gilt, wer unausgesprochenen Vorstellungen von Herkunft entspricht? Der Film hat dazu keine eigene These, die er verfolgt, er beobachtet nur. Doch aus vielen Beobachtungen setzt sich ein Bild zusammen, das die Gesellschaft im wenig schmeichelhaften Licht zeigt.

Als Zuschauer fragt man sich immer mehr, welche Rolle der Staat und seine Organe spielen, wenn neben der versperrten Nottür und haarsträubender Informationspolitik der Polizei beispielsweise noch erwähnt wird, dass die wegen rechtsextremer Chats später aufgelöste SEK-Einheit auch in jener Nacht in Hanau im Einsatz war. Oder dass an jenem Abend die Notrufe nicht durchkamen, die der ermordete Vili-Viorel Păun bei der Verfolgung des Täters abgesetzt hatte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass manche Menschen im Staatsgebiet weit weniger geschützt werden als es bei anderen vielleicht der Fall wäre. Und dass das im Nachhinein eher verschleiert statt aufgearbeitet wird.

„Da stimmt was nicht im Staate Bundesrepublik Deutschland, im Bundesland Hessen“, heißt es in einer Szene bei einer Gedenkrede. Doch was folgt daraus? Für die Familien jedenfalls zu wenig. Von der „Bringschuld des Staates gegenüber den Angehörigen“, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach dem Anschlag beschwor, ist in dem Film wenig zu sehen, dafür viel Kleinmut und Wegducken unter den Offiziellen – und das ist eine der Hauptsachen, die „Das deutsche Volk“ dokumentiert. Der Film zeigt außerdem, wie unterschiedlich die Angehörigen mit der schwer bewältigbaren Mischung aus Wut und Trauer umgehen und sich doch immer wieder zusammenfinden, um gemeinsame Forderungen zu erheben, unter denen die schlichteste und einsichtigste im Film lautet: „Es darf keine Gökhans, Ferhats und Saids geben, die tot auf dem Boden liegen!“

„Das deutsche Volk“ ist keine reißerische Recherche, sondern eine ruhige und klare Langzeitdokumentation, die Menschen zeigt, denen Schreckliches widerfahren ist, das niemand erleben sollte. Und die sich mit dem Erlebten fragen, in was für einem Land sie leben und arbeiten oder ihre Kinder aufgezogen haben. Wierzchowskis Film wird so zu einer Bestandsaufnahme der deutschen Gesellschaft heute, in der unterschiedliche Geschichten von Herkunft und Zugehörigkeit auf die mörderischen Fantasien völkischer Reinheit treffen – und auf eine unheimliche Sprachlosigkeit, die einen als Zuschauer nach knapp über zwei Stunden nicht unberührt aus dem Kinosaal gehen lässt.

„Das deutsche Volk“ läuft ab dem 4. September in den Kinos.

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